Kontrapunktisches Schlagen - Thomas Bernhards "Amras" in einer kommentierten Neuausgabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Gebirge ist gegen die Menschen; die Grausamkeit, mit der die hohen Gebirge die Menschen erdrücken … die Methoden des Grauens des in die Gehirne des Menschen vorgerückten Gesteins".

Ist das ein sinnvoller Satz? Kann man ihn 'verstehen''? Nach den strengen Gesetzen der Logik selbstverständlich nicht. Denn es handelt sich um ein Zitat aus Thomas Bernhards düsterem Roman "Amras", einem modernen Stück Literatur, das den Fragmentcharakter zum Prinzip erhoben hat.

Zwei offensichtlich wahnsinnige Brüder treten in diesem Text auf. Sie sitzen in einem Turm, säbeln mit einem "Augsburger Messer" aus dem Jahr 1557 an umherhängendem Rauchfleisch herum und fügen sich auch gerne schon einmal selbst Verletzungen zu - wenn sie meinen, "daß unsere Seelen, ja unsere Gehirne schon schmerzunempfindlich geworden waren, in hoher Erregung da und dort, an der Brust, auf dem Rücken, auf den Schenkeln und an den Kniegelenken […] kontrapunktisch schlugen wir, in immer stärkerer Rhythmisiserung, unsere Köpfe an alle vier Wände".

Ein gleichsam durch den Fleischwolf des 20. Jahrhunderts gedrehter Novalis lässt hier grüßen - die Krankheit und der Wahnsinn, die fiktive "Tiroler Epilespsie" der selbstverständlich suizidalen Brüder geben dem Text seinen zerhackten Rhythmus vor, der die romantische Tradition gleichzeitig aufgreift und aus sich heraus eliminiert.

Kommenden Pisa-Studien kann man hierzulande jedenfalls gelassen entgegen sehen. Liegt der Text von Bernhards eigenem Lieblingswerk doch nun in einer für die Schule ideal aufbereiteten kommentierten Ausgabe samt luzidem Kommentarteil vor, in der zumindest die Fremdworte des Texts erläutert werden. Der eingangs zitierte Satz harrt jedoch nach wie vor der Interpretation. Just go for it.

J. S.


Titelbild

Thomas Bernhard: Amras. Text und Kommentar.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
144 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-10: 3518188704

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