Verminte Sprache

Georg Tscholls essayistische Kleist-Lektüre

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich von Kleist und sein Werk haben anhaltend Konjunktur. Bei der Vielzahl der Deutungs- und Lektürevorschläge gab es in jüngster Zeit immer wieder auch anregende Lesarten, die die Vielschichtigkeit des Kleist'schen Œuvres essayistisch einzuholen versuchten. Am ambitioniertesten vielleicht das Kleist-Wörterbuch von László F. Földényi, "Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter", oder die Beiträge im Sammelband "Kleist lesen".

Im einen wie in den anderen Fällen geht es darum, die Herausforderungen der Texte Kleists - teilweise betont assoziativ - produktiv zu machen und auf den Leser rückzubeziehen. Földényi etwa betont in seinem Vorwort: "Ich lese Kleist. Das, was er mitteilen will, und das, was er nicht erzählen will. Ich projiziere beides übereinander: das ist das NETZ. Ich lese ihn - durch-lese ihn - ver-lese mich. Ich lese ihn zu Ende, lese ihn aus, lese mich in ihn ein."

Földényis zufällig ausgewähltes Kleist-Wörter-Netz-Werk verzichtet beispielsweise auf den Eintrag "Geld", eine Lücke, auf die schon Lothar Müller in seiner Besprechung "Ein Gräuelsystem von Worten" in der FAZ verwiesen hat. Dabei hätte gerade dieses Lemma in Verbindung mit Ökonomie einige spannende Überlegungen zeitigen können, wie dies nun Georg Tscholl unter der Überschrift "Krumme Geschäfte" in seiner Wiener Dissertation vorgeführt hat. Allerdings ist es keine leichte Lektüre, die Tscholl, übrigens immer wieder auch Földényi zitierend, der Leserin und dem Leser da zumutet, nicht zuletzt dann, wenn Tscholl nicht vor drastischen Überspitzungen zurückschreckt. "Schrift verarscht den Leser", heißt es da etwa, oder das "Marionettentheater [sei] ein Theater der Inkontinenz". Auch spricht der Autor vom "unbefriedigende[n], geile[n] Theater Heinrich von Kleists". Ob solche zugespitzten Pointierungen immer sein müssen, oder nicht manchmal gerade um der Pointe willen als bemüht und ermüdend gebraucht erscheinen, sei dahingestellt. Konsequent ist Tscholl in seiner Lektüre jedoch allemal.

Nach einem kurzen aber heftigen, weil gleich dreifachen "Vorspiel" liest Tscholl in drei Teilen unter den Ortsangaben "Königsberg", "Kohlhaasenbrück" und "Bei Utrecht" in insgesamt 28 Kapiteln Kleist unter anderem mit Sigmund Freud und Jacques Derrida, den "Theoretikern des Versprechens".

Heißt "Kleist lesen" für die Beiträgerinnen und Beiträger in Müller-Schölls und Schullers Band zunächst und vor allem, "eine Verschiebung des Blicks von dem, was angeblich gesagt wird, zu der Art und Weise, wie ein Text etwas sagt", vorzunehmen, formuliert Tscholl oftmals paradox und radikaler zugleich, wie etwa: "Was zu lesen sein wird, steht unter Druck. Kleist lesen ist unter Druck lesen, ist zu lesen, dass zu lesen sein wird, und unter Druck: seine Sprache ist vermint."

Tscholl geht es um die Engführung, um das Ineinanderschachteln und Auseinanderfalten von Schrift, Geld und Theater durch den "Verpackungskünstler" Heinrich von Kleist. Angefangen bei den Briefen, "die immer noch und überhaupt immer Geschäftsbriefe sind", geht es - wie nicht anders im "Reich der Zeichen" zu erwarten - um "Täuschung", wie Georg Tscholl Roland Barthes zitierend festhält. Die Wiederaufnahme von Inhalten an wechselnde Adressaten, die Verschachtelung von Briefen ist, so Tscholl, paradigmatisch für Kleists Umgang mit Schrift, Geld und Theater: "Schon für Kleist spielt die Schachtel Zeichen: als Hülle, Schirm, Maske steht sie für das, was sie verbirgt oder schützt und gleichwohl bezeichnet: sie tauscht und täuscht. [...] In die Umhüllung scheint die Arbeit des Zurechtmachens [des Tuns] investiert, aber gerade dadurch verliert der Gegenstand seine Existenz, er wird zur Täuschung." So gesehen, so Tscholls vorweggenommenes und essayistisch immer wieder umschriebenes und umgeschriebenes Fazit, sei das "Geschäft" von Schreiben, Geschäften und Theater nicht nur bei Kleist immer das "Tauschen und Täuschen", so dass am Ende von Tscholls Kleist-Essays "stimmlos, unsichtbar, Schauspieler" zusammenfallen.

Doch bis es soweit ist nach rund 180 Seiten - mit teilweise nicht immer sofort verständlichen und nachzuvollziehenden Gedankengängen -, bedient sich Tscholl nicht nur bei den eingangs genannten "Theoretikern des Versprechens", sondern lässt eine Reihe weiterer Stichwortgeber aus den unterschiedlichsten Bereichen auftreten. Neben Karl Marx und Adam Smith sind dies Friedrich Nietzsche, Adam Müller, der Königsberger Finanz- und Staatswirtschaftler Christian Jacob Kraus und viele andere.

Vor allem die historische Rückbindung an Überlegungen Müllers, in erster Linie an dessen "Zwölf Reden über die Beredsamkeit" und Christian Jacob Kraus, über den wohl die Smith-Lektüre Kleists vermittelt ist, zeigt Kleists "ungeduldige und voreilige Produktion" auf einem "'literarischen Feld'", das "im Kommen erst, fortschrittlich und weitgehend noch Neuland war". "'Literatur' um 1800 ist sicher eine Voraussetzung dafür, dass Kleist Schreibmaschine (das, was pausenlos auf sein Schreiben reagiert) schreiben konnte und nicht zuletzt dadurch auch photo- oder sogar kinematographische Probleme thematisierte. Aber 'Literatur', der 'einfache Akt des Schreibens', war für Kleist deshalb gerade zu wenig. Zweifach, doppelt musste sein Schreiben schon sein, damit wie er schreibt zu schreiben war. Kehrt Kleists Schrift bei sich ein und kommt auf sie zurück ('in einer ständigen Wiederkehr auf sich selbst zurückkrümmen') und erscheint endlich sich selbst, ist sie materialiter bloß/bloßer Schein. [...] Oder dann bedingungslos, d. h. immer schon nur in Anführungszeichen ... sich, schon zitiert, zitierend."

Ob schließlich "out of joint" oder von Anfang an "ein Instrument 'organisierten Wirtschaftens'", Kleists Schreiben, Kleists Kunst erscheint Tscholl in jedem Fall als "eine Kunst, die nichts mehr nachahmt", eben "ein Theater der Sprache, abstrakt und unverständlich im Grunde."


Titelbild

Georg Tscholl: Krumme Geschäfte. Kleist, die Schrift, das Geld und das Theater.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
200 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3826030958

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