I am the enemy you killed, my friend

"Der andere Blick": Aufsätze, Reden und Gespräche Hans Joachim Schädlichs

Von Kai SinaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sina

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans Joachim Schädlich hat nichts zu sagen. Das behauptet er jedenfalls. Was aber ist von einem Schriftsteller zu halten, der von sich selbst schreibt, er habe nichts zu sagen? Ein derartiges Statement kann Zeichen koketter Attitüde sein. Es könnte aber ebenso Zeugnis schriftstellerischer Aufrichtigkeit sein - einer Aufrichtigkeit, die sich aus der Skepsis gegenüber einer Verlagerung des Interesses von den Texten auf den Verfasser ergibt, gegenüber einer autoritären Ausdeutung eines Textes durch den Autor selbst. Wenn also ein Autor meint, er habe nichts zu sagen, kann dies eine Form des Widerstands sein: eine deutliche Zurückweisung der Deutungshoheit des Autors über sein Werk. Ein in diesem Punkt wirklich konsequenter Schriftsteller meldet sich also ein einziges Mal zu Wort, sagt dann, er habe nichts zu sagen - und schweigt in Zukunft.

Soweit die Theorie. Dass die Praxis ganz anders aussieht, dass ein Schriftsteller nicht nur Schriftsteller, sondern auch meinungsbildender Intellektueller sein kann, ist unbenommen. Dennoch: Wird unter dem Namen des Schriftstellers, der postuliert, er habe nichts zu sagen, nun eine Zusammenstellung personalisierter Texte veröffentlicht - also Essays, Reden, Interviews -, wird zusätzlich dazu ein großformatiges Porträt des mild lächelnden Schriftstellers auf den Titel gedruckt, so wird der vermeintlich engagierte Widerstand gegenüber zugewiesener Deutungsautorität schnell zum eitlen Bescheidenheitstopos. Ein genau solcher Fall liegt mit der soeben unter dem Titel "Der andere Blick" erschienenen Sammlung von Aufsätzen, Reden und Gesprächen Hans Joachim Schädlichs vor. Die Eitelkeit ist dabei vollkommen unpassend: Denn Schädlich hat etwas zu sagen.

Autorität, Widerstand, Moral - das sind Schädlichs große Themen. Sie ergeben sich dabei in erster Linie aus der persönlichen Erfahrung seiner DDR-Zeit. Mit der Unterzeichnung der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurde Schädlich dort zum unerwünschten Bürger. Man erfährt, wie es ihm unmöglich gemacht wurde, in der DDR überhaupt zu publizieren, wie er statt dessen seine Texte in den Westen hat schmuggeln lassen und wie sie dort veröffentlicht und rezipiert wurden. Dem Leser wird Einblick in die Stasi-Akten des Autors gewährt. Dort finden sich Spitzelberichte, Verhörprotokolle und die Auslegung seines bei Rowohlt publizierten Erzählbands "Versuchte Nähe" durch den entsprechenden "Sachverständigen-IM": Der Schwerpunkt der Prosa Schädlichs - in den Akten der Stasi konsequent als "Schädling" bezeichnet - ziele demnach auf "die politisch-ideologische, auch psychologische Vertrauensbeziehung zwischen Partei/Staatsmacht und Bevölkerung". Genau darum geht es Schädlich noch immer: Um das Verhältnis des Einzelnen "als eines Unmächtigen zu übergeordneten Mächten, in der Vergangenheit und in der Gegenwart."

Die aktuelle ostalgische Verniedlichung der DDR lehnt Schädlich als "Verdummung" ab, jene Idealisierung der "kommunistischen Diktatur" macht ihn wütend: Vor dem Hintergrund seiner Erlebnisse mit dem "monströsen Staatsicherheitsdienst" führt Schädlich die Behauptung, "irgend etwas soll auch gut gewesen sein", ganz einfach und betont beherrscht auf "einen Mangel an Informationen" zurück. Er könne es nicht verstehen, "daß man einer Sache nachweint, die einfach nur verdient hatte zu verschwinden." Seiner Abrechnung mit der DDR schließt er ein deutliches Plädoyer für die parlamentarische Demokratie an: Sie sei "das Maß", ihre "Idee und Wirklichkeit" seine "Herzensangelegenheit".

Schädlich beschränkt sich jedoch nicht auf seine eigene Geschichte, um das Wechselverhältnis von "Macht und Unmacht" zu beleuchten: Er, der promovierte Linguist, stellt sprachanalytische Reflexionen an, und Georg Büchners "Woyzeck" ist für ihn geradezu ein soziolinguistischer Paradefall: Die bruchstückhafte, zerfaserte Sprache Woyzecks - "sprachlicher Ausdruck als Reflex der Lebensumstände" - sei "adäquater Ausdruck gebrochenen Lebens". Woyzeck gegenüber steht der Hauptmann, der in vollständigen, eloquente Sätzen "im sprachlichen Ausdrucksgebiet" und damit auch über "die Unteren" herrsche. Büchners Drama ist Schädlich dabei nicht nur eindringliches Exempel dafür, dass Sprache immer ein Abbild gesellschaftlichen Machtgefälles ist; vielmehr ist der "Woyzeck" ein entscheidender Referenztext für das Leben und Werk Hans Joachim Schädlichs: Schon als Leipziger Student "liebte" er die "herzbewegende Radikalität" Büchners, sie erweckte "Widerstandsgeist" gegen die, "denen der Mensch nur Arbeitsvieh und Versuchstier ist".

Widerstand - das bedeutet für Schädlich in erster Linie Anklage. Er klagt all diejenigen an, die sich von der einen oder anderen deutschen Diktatur haben funktionalisieren lassen und nunmehr als Richter, Professoren, Ärzte, Priester und Lehrer, kurz: als angesehene Persönlichkeiten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft leben. Er reflektiert im Zuge dessen über Schuld und Sühne: Eine Entschuldigung, eine Rechtfertigung der Schuld - Schuld nicht verstanden als juristische, sondern als ethische Kategorie - kann es nicht geben: "Nein. Es wird Einspruch erhoben." Schädlich ist erbarmungslos. Er erscheint und spricht als Anwalt der heute vergessenen Taten in den dunklen Tagen der deutschen Diktaturen, er gibt sich als Sprecher des kollektiv Verdrängten. Das Zitat aus Benjamin Brittens "War Requiem", das Schädlich selbst anbringt, verdeutlicht dies eindrucksvoll: "I am the enemy you killed, my friend."

Unten, Oben, Rechts, Links, Schuldig, Unschuldig - Schädlich topografiert die ihn umgebende Wirklichkeit in ein klares Muster und schreit es in seinen Aufsätzen, Essays und Gesprächen geradezu heraus. Schädlichs radikales Hinterfragen jeglicher Form von Autorität schließt dabei auch die des Autors und Kritikers über die Deutung eines literarischen Werks ein: die Kritiker reden seines Erachtens "viel Scheiße zusammen", er selbst, als Autor, will den Lesern die Deutung seines Werkes überlassen, "nicht nur, weil anders der Raum für Deutung ziemlich unziemlich ausgefüllt wird, sondern auch, weil Autoren oft gar nicht wissen, wie ihre Texte zu verstehen sind."

Spätestens nach diesem spannenden Sammelband wird es üblich werden, beispielsweise Schädlichs "Tallhover" auch vor dem Hintergrund seiner Ausführungen zur "Polizeigeschichte" oder seiner "autobiographischen Notizen" zu lesen. Man mag dies bewerten, wie man will. Der ganz und gar naive Zugang eines Lesers zu seinem Werk, wie Schädlich ihn sich wünscht, ist nunmehr verbaut. Gewollt oder nicht: Mit diesem Band beansprucht ein Schriftsteller Deutungshoheit.


Titelbild

Hans J. Schädlich: Der andere Blick. Aufsätze, Reden, Gespräche.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
316 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3499239450

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