Späte Meisterschaft

Zwei Gedichtbände von Wisława Szymborska

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der einzigartige Rang der zeitgenössischen polnischen Lyrik ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts innert kurzer Zeit durch zwei Nobelpreise bestätigt und dadurch auch international anerkannt worden. Czeslaw Milosz (1911-2004) erhielt seine Auszeichnung 1980 freilich auch vor einem politischen Hintergrund zugesprochen: Seit 1951 war Milosz im westlichen Exil, zuletzt für vier Jahrzehnte im kalifornischen Berkeley. Im kommunistischen Polen hingegen wurde er lange offiziell nicht mehr gedruckt. Wie anders präsentierte sich die Ausgangslage dann bereits bei der Ehrung Wisława Szymborskas im Jahr 1996: Inzwischen waren die kommunistischen Regimes zusammengebrochen und die Trennung des europäischen Kontinents in Ost und West zumindest auf dem Papier aufgehoben. Szymborska musste nicht mehr mit dem Verdacht leben, die höchste literarische Würde sei ihr womöglich nicht ausschließlich auf Grund der künstlerischen Qualität ihres Werks zuerkannt worden.

Seitdem hat Wisława Szymborska (geboren 1923) verhältnismäßig wenig Neues publiziert. In zwei schmalen Bändchen hat sie nach dem Nobelpreis nicht mehr als vierzig Gedichte vorgelegt. „Chwila“ (Der Augenblick) erschien 2002, „Dwukropek“ (Der Doppelpunkt) kurz vor dem Ende des vergangenen Jahres in Krakau. Die späten Werke der Dichterin haben nach der einhelligen Meinung der polnischen Literaturkritik die Stockholmer Entscheidung von 1996 eindrücklich bestätigt; beide Bände lösten begeisterte Reaktionen aus.

Die deutschsprachigen Leserinnen und Leser dürfen sich glücklich schätzen, dass ein Teil von Szymborskas allerneuesten Gedichten bereits seit letztem Sommer in Übersetzung mit polnischem Paralleltext vorliegt. Karl Dedecius, der langjährige und verdiente Vermittler polnischer Literatur, hat im feinen Band „Der Augenblick / Chwila“ in der Bibliothek Suhrkamp nicht nur den vorletzten Band der Dichterin fast gänzlich auf Deutsch zugänglich gemacht, er hat überdies Szymborskas aktuellste Gedichtsammlung schon vor ihrem Erscheinen in Polen zumindest zur Hälfte bereits in den durch ihn betreuten Band aufnehmen können. Dedecius hat auf das Typoskript der Autorin zurückgreifen können; einawaige weitere Gedichte waren bereits in polnischen Zeitschriften als Einzelpublikationen abgedruckt worden.

Die Themenvielfalt dieser Gedichte ist breit, ihr Ton oft ironisch und augenzwinkernd, philosophisch und nachdenklich, wie man ihn vom früheren Werk her bereits kennt. Manches Gedicht polemisiert ganz offen mit älteren. Nicht zu übersehen ist indessen, dass die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins, auch des eigenen, nun mehr Raum einnimmt. Gleichwohl begegnet man aber auch hier immer noch dem fast jugendlich anmutenden Staunen des lyrischen Ich über das Wunder der Existenz, welches Szymborska so meisterlich festzuhalten versteht. Ob sie nun angesichts der Vielfalt der Schöpfung über ihren eigenen einmaligen Platz darin reflektiert („Im Gewimmel“) oder mit ihren Blumen einen einseitigen Dialog aufnimmt („Das Schweigen der Pflanzen“): Immer wieder nimmt die Dichterin die bewusst naive, arglose Position einer scheinbar nichts ahnenden Beobachterin ein, wie ein Kind, das etwas zum ersten Mal sieht oder erlebt. Dabei gelingen ihr überraschend neue Einsichten und Diagnosen über sich selbst und die Dinge, Pflanzen, Tiere und Menschen um sie herum. In solchen Gedichten kann man wohl die eigentliche künstlerische Meisterschaft Wisława Szymborskas erblicken.

Zu beeindrucken vermögen auch die politischen Gedichte, etwa die „Fotografie vom 11. September“, oder aber „Irgendwelche Leute“ über Menschen auf der Flucht. Durch eine radikale sprachliche Entpersönlichung der Flüchtlinge weist Szymborska umso drastischer auf deren Leid hin: „Irgendwelche Leute auf der Flucht vor irgendwelchen Leuten / […] Sie hinterlassen ihr irgendwie ein und alles, / bestellte Felder, Hühner, Hunde, / Spiegel, in denen sich das Feuer betrachtet. / […] Etwas wird noch passieren, nur wo und was. / Jemand kommt ihnen entgegen, nur wann, wer, / in wie vielen Gestalten und in welcher Absicht. / Wenn er die Wahl haben sollte, / wird er vielleicht nicht ihr Feind sein wollen / und sie an irgendeinem Leben lassen.“ Diese Vertriebenen sind namenlos; ihnen wird nicht nur die eigene Heimat verweigert, sondern überhaupt eine Identität. Aber vielleicht ist Szymborskas Gedicht nicht allein auf die Krieg führenden Parteien gemünzt. Man könnte darin auch eine scharfe Kritik an denen lesen, die wegschauen – und gerade dadurch den Flüchtenden ihren Namen und ihre Würde rauben.

Etwas weniger glücklich ist man über den zweiten neuen Band von Gedichten Szymborskas in deutscher Übersetzung, der im vergangen Sommer den Weg in die Buchhandlungen gefunden hat. Dies liegt allerdings keineswegs an den Gedichten, die ebenfalls alle von Karl Dedecius ins Deutsche übertragen wurden. Die Auswahl „Liebesgedichte“ schöpft aus dem Gesamtwerk der Dichterin, das sich über mehr als ein halbes Jahrhundert erstreckt. Als repräsentativer Überblick ist diese Sammlung in handlichem Format sogar durchaus zu begrüßen. Man nimmt das Büchlein gerne mit auf Spaziergänge; manche schon klassisch zu nennende Meisterwerke findet man hier wieder. Nur passen viele der ausgewählten Texte eben nur bedingt zum Thema „Liebe“. Das müsste nicht a priori stören, bestünde nicht die Gefahr, dass der Titel des Bands die Lektüre immer wieder verengt. Zwar sind Elemente der Liebe in allen Gedichten vorhanden. Wenn aber wie im berühmten „Autorenabend“ das dominierende Thema eigentlich ein ganz anderes ist – im vorliegenden Fall eine ironisch-humorvolle Berichterstattung von einer nicht ganz gelungenen Dichterlesung –, dann kann man wohl schwerlich von einem Liebesgedicht sprechen. Aber wie gesagt, das ist eine milde Kritik am Konzept, nicht aber an den Gedichten selbst. Und unter denjenigen Gedichten, die tatsächlich von der Liebe erzählen, finden sich wahrlich einige von Szymborskas schönsten, wie etwa „Liebe auf den ersten Blick“.

Titelbild

Wisława Szymborska: Der Augenblick / Chwila. Gedichte. Polnisch und deutsch.
Herausgegeben und übertragen aus dem Polnischen von Karl Dedecius.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
111 Seiten, 11,80 EUR.
ISBN-10: 3518223968
ISBN-13: 9783518223963

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Titelbild

Wisława Szymborska: Liebesgedichte.
Ausgewählt und übersetzt aus dem Polnischen von Karl Dedecius.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
139 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-10: 3458348115

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