Wie man verdammt gute Literatur emuliert

Wolf Wondratschek Erzählungsband "St. Tropez": Avantgarde, antiquiert

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer wenig zu sagen und keine eigene Meinung hat, sich aber trotzdem das Etikett "Kritikus" auf die Hühnerbrust pappen will, vertraut auf Google und den Perlentaucher. Und beginnt jede Rezension damit, herunterzubeten, was andere Kritiker denken. Stichwort "Wolf Wondratschek": Florian Illies findet, der Mittsechziger hätte früher Prosa geschrieben, "die sich gewaschen hat", doch neuerdings hätten sich seine Geschichten eher "gepudert, bis es staubt". Fritz Raddatz dagegen bewundert Wondratscheks "musikalischen Verstand", und setzt in seiner Rezension des (andernorts als schwülstig beschimpften) Celloromans "Mara" alles daran, die Leser zur Wondratschek-Lektüre zu "verführen". Und Peter Henning konstatiert etwas irritiert: "Seit einer Handvoll Büchern zelebriert Wondratschek seine Verwandlung vom einst respektlosen, durchamerikanisierten Pop-Schreiber zum modernen Klassiker", und bemüht sich sogleich um Nabokov- und Proust-Vergleiche.

Ebenfalls beliebt in schlechten Rezensionen: Klappentexte zitieren. "St. Tropez", der neueste Erzählungsband Wolf Wondratscheks, verkündet auf dem Einband, dass hier "mit großer stilistischer Brillanz scheinbar folgerichtige Lebensgeschichten als Ansammlung von Zufälligkeiten beschrieben werden." Das klingt schwammig. Kein Wunder: die fünf Erzählungen aus "St. Tropez" sind kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wondratschek erzählt von einem Feuerwehrmann, der dem Zauber der Oper verfällt. Von einem Chirurgen, der aus dem Ruhestand gerufen wird, um die Wirbelsäule eines verstörenden russischen Mädchens zu richten. Oder von einem Musikalienhändler, der sich auf einen dubiosen Geschäftspartner einlässt. Kleine, eher unspektakuläre Geschichten, einige mit phantastischen Elementen, fast alle mit Wiener Lokalkolorit angereichert. Die große Lebens- und Sinnkrise jedoch, die der Klappentext suggeriert, findet allenfalls zwischen den Zeilen statt.

Was die fünf Geschichten eint, ist jene "Pudrigkeit", die Florian Illies so irritierte. Klassische Figuren wie die mysteriöse Schönheit und der alte Mann, antiquierte Lebensräume und Geisteshaltungen (fast alle Erzähler sind konservative, schon leicht angetrocknete Bildungsbürger), zeitlose Motive und Handlungsmuster: "St. Tropez" hätte auch schon vor fünfzig Jahren geschrieben werden können. Unaufgeregte, ein wenig behäbige alte-Leute-Prosa, in ihren besten Momenten von klassischer Eleganz. Nur leider durchsetzt von pappsüßen, selbstzweckhaften, viel zu reichhaltigen Edellangweiler-Stellen. Das Äquivalent zu Mozartkugeln, die ein ältlicher Onkel zum Tee reicht, nachdem sie schon einige Jahre im Schrank vor sich hingammelten.

"So ist sie, meine Tochter, sagte mir ihr Vater noch vor unserer Hochzeit, gib ihr eine Himmelskarte mit allen Sternen, von der sie bis dahin noch keine Ahnung gehabt hat, und sie wird sie dir am nächsten Tag korrigiert zurückgeben", beschreibt der Erzähler in "Ein Tier, wahrscheinlich war ich das, bevor Gott zwei Menschen daraus machte, oder: Die himbeerfarbene Glühbirne" seine Frau. Der Titel ist Programm: es fällt schwer, die eigentliche Fabel nachzuvollziehen, verbirgt sich die Handlung doch unter einem Wulst aus - nicht immer geglückten - Umständlichkeiten.

Doch wer das Pathos für einen Moment ausblenden kann und gegen die Sprachwucherungen ankämpft, wird mit einer fragilen, intelligenten Geschichte über all die kleinen Hässlichkeiten belohnt, die im Lauf der Zeit eine Ehe zu erdrücken drohen. Und mit einer perfiden Strategie, jene Hässlichkeiten zu überwinden: Ein legitimierter Ehebruch, einmal im Jahr, mit einem Fremden, schon seit dreißig Jahren.

Richtig schlimm wird Literaturkritik, wenn der Rezensent plötzlich ein diffuses "man" oder "der Leser" einführt, um der Gesamtleserschaft seine Eindrücke zu oktroyieren. Und ähnlich usurpiert fühlt sich der Leser durch Wondratscheks Sprache. Das bewusst Altmodische in Figurenzeichnung und Stil korrespondiert nicht miteinander, nein, man hat beim Lesen das Gefühl, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Für die (recht subtilen und durchaus eingängigen) Handlungen, oder für die unzähligen kleinen sprachlichen Arabesken, mit denen sich Wondratschek oft selbst einen Schnörkel durch die Rechnung macht.

Etwa in der Beschreibung eines nervös erscheinenden Jungen: "In ihm war ein Beben, eine angestrengte, äußerste Aufmerksamkeit, als stünde er immer vor einer nur einen Spaltbreit offenen Tür, hinter der sich noch erstaunlichere, erschreckendere Dinge abspielen mochten. Dabei war er, wie ich spürte, schon jetzt bis zum Zerspringen ausgelastet, mit der Vielzahl ganz normaler, alltäglicher Sinneseindrücke zurechtzukommen. Mir geht es so nach übertrieben verabreichtem Genuss von starkem Kaffee."

"Übertrieben verabreichter Genuss von starkem Kaffee"? Da braucht man als Leser schon eine Weile, um zu bemerken, dass hinter der sprachlichen Extravaganz schnöde Schludrigkeit herumlümmelt. So nicht, Herr Wondratschek! Zwar gibt es unzählige Textstellen, die man sofort in sein Notizbuch übertragen möchte ("Was ich beschreibe, ist nicht sichtbar, und was ich sehe, nicht berührbar."), aber im Kontext der Handlung stehen diese Stellen oft so zweckfrei herum, dass sich der Gedanke aufdrängt, sie seien aus einem eben jener Notizbücher - ohne großes Nachdenken - in die Erzählung eingebaut worden.

Andererseits: "Wenn sie aus Glas wären, ihre Fußsohlen, und man könnte von unten bis hinauf in ihre Träume schauen und jedes Bein gäbe, jedes für sich, die Sicht frei auf wartende andere Träume, was würde ich tun? Mich hinknien und einen Blick riskieren?" Volltreffer! Punktuell entfaltet Wondratschek eine visuelle Kraft, von der man zu floskeln versucht ist, dass sie "ihresgleichen suche".

Doch das tut sie nicht: die subtilen Realitätsverschiebungen, der süffisante Erzählton, die kleinen Brüche im Text, durch die ein hochsuggestives Panoptikum psychopathologischer Verschiebungen schimmert, das virtuose Spiel mit Lesererwartungen und die abrupten Brüche und Kameraschwenks, mit denen der Autor den Text als Konstrukt entlarvt und damit zur Meditation über die Grenzen der künstlerischen Abbildungskraft transzendiert - all das, was besonders die versponnene Titelerzählung unvergesslich macht - kennen wir bereits. Von Nabokov. Und auch bei Tschechow und Schnitzler werden etliche Anleihen gemacht.

Hmm... im letzten Absatz waren die Sätze vielleicht etwas zu lang. Besser wieder mehr Aktualität und Bodenständigkeit signalisieren. Deshalb sei hier auf jene "Simpsons"-Episode verwiesen, in der Homer Erfinder werden möchte. Er verkürzt das langwierige Auftragen von Make-Up, indem er sämtliche Schminkutensilien seiner Frau in eine alte Schrotflinte steckt. Dann zielt er auf ihr Gesicht, und drückt ab. So ähnlich fühlt sich der Leser nach der Lektüre von "St. Tropez": ganz viele tolle Sachen - ohne jede Subtilität mitten ins Gesicht gerotzt.

Fazit: Man übersteht dieses Buch nur, wenn man das Veröffentlichungsjahr ignoriert und sich an einem regnerischen Sonntag auf gediegene Klassikerlektüre einstellt.

Halt, das könnte zu böse klingen. Oder, als ob der Kritiker das Buch einfach nicht verstanden hätte. Also zum Ende hin lieber noch einmal einlenken: Wondratschek ist ein routinierter Epigone, mehrere Dekaden zu spät gekommen. An den Geschichten selbst gibt es wenig auszusetzen, und deshalb wird er sein Publikum finden. Doch echte Literatur ist frischer, wilder. Mutiger.

Zum Abschluss ein Zitat, mitten aus dem Buch gerissen, um diese Rezension in einer bittersüßen, versöhnlichen Note enden zu lassen: "Nun gut, ein paar Formulierungen saßen, aber sonst? Ich hatte eine Frage gestellt, eine Antwort aber nicht geliefert! Eine magere Ausbeute! Okay, nach mehr als vierzig Jahren Dienst ist Zynismus erlaubt; was nur beweist, wie machtlos wir sind."

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Titelbild

Wolf Wondratschek: Saint Tropez. und andere Erzählungen.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
185 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446206663

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