Von Giftmörderinnen und Werwölfen

Hania Siebenpfeiffer untersucht Gewaltdiskurse in der Weimarer Republik

Von Urte HelduserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Urte Helduser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit dem Film "Der Totmacher" (1995) über den berüchtigten Hannoveraner Serienmörder Haarmann, gespielt von Götz George, gilt der Diskurs über sexuelle Gewalt als genuiner Bestandteil der Kultur der Weimarer Republik. Bereits seit längerem hat die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung die produktive Funktion dieses Topos` für die kulturelle Moderne der 20er Jahre erkannt. Darstellungen aufgeschlitzter Frauenkörper und zähnefletschender Lustmörder in den Großstadtszenerien Christian Schads, George Grosz' oder Otto Dix gehören zum Bildinventar der Metropolenkultur der 20er Jahre. Filme wie Fritz Langs "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" (1931) blieben bis weit über ihre Zeit hinaus legendär.

Das Reden über Gewaltverbrechen ist in den 20er Jahren - der "Fall Haarmann" macht das besonders deutlich - vor allem ein solches über seine Protagonisten, die Täter - und Täterinnen. Die Popularität kriminologischer Diskurse für die neusachliche, auf Dokumentarizität zielende Literatur bekundet eine eigene, von Rudolf Leonhard im Verlag "Die Schmiede" herausgegebene Buchreihe mit dem Titel "Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart", in der zwischen 1924 und 1925 nicht nur Theodor Lessings Abhandlung über den Fall Haarmann unter dem Titel "Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs", sondern auch einige andere der von Hania Siebenpfeiffer in ihrer Dissertation "Böse Lust" untersuchten Texte namhafter AutorInnen der Neuen Sachlichkeit erschienen: Hierbei reicht das Spektrum von stilistisch konventionellen, in der Tradition des "Neuen Pitaval" stehenden, auf Authentizität zielenden Kriminalerzählungen wie etwa Ernst Weiß' Roman "Der Fall Vukobrankovics" oder Hermann Ungars "Die Ermordung des Hauptmanns Hanika" bis hin zu experimentellen Montageerzählungen, wie etwa der des Schriftsteller-Arztes Alfred Döblin, "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord".

Das Interesse am Verbrecher als anthropologisch bestimmbarem Typus erläutert Siebenpfeiffer als gemeinsames Moment unterschiedlicher kriminologischer Diskurse zwischen Kriminalsoziologie und -biologie. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Ansätzen, dass dem Verbrecher eine spezifische Disposition zur Tat zugeschrieben wurde - er mithin als Typ gekennzeichnet werden konnte und sein Verbrechen in Affinität zu seiner - mal physiognomisch, mal psychopathologisch beschriebenen Persönlichkeitsstruktur gesehen wurde.

Dass diese Typisierung sich mit Geschlechterkonstruktionen überlagerte, überrascht nicht, nicht zuletzt weil die Diskurse, aus denen sich die Kriminologie speiste, zu einem großen Teil mit denen der Geschlechterdiskurses überschnitt, man denke dabei an Werke wie das des Kriminalanthropologen Cesare Lombroso über "Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte" (1894) oder neuere Publikationen wie Erich Wulffens "Handbuch" "Das Weib als Sexualverbrecherin" (1923).

Für die Frau als "Verbrecherin" bedeutete das einen doppelte Ordnungsverletzung: Sie verstieß nicht nur gegen die Rechtsnorm, sondern gleichzeitig immer auch gegen die Geschlechternorm: Während der Mann - insbesondere als Lustmörder - die geschlechtsspezifische männliche Triebhaftigkeit nur in übersteigerter Form aufwies, bestand die weibliche Delinquenz immer auch in der sexuellen Devianz, anstelle der verordneten Trieblosigkeit und Passivität wies die Täterin eine virile Sexualstruktur auf.

Andererseits ging es in kriminologischen Debatten ebenso darum, bestimmte Verbrechensformen geschlechtspezifisch zu deuten, z. B. als "typisch" weiblich zu interpretieren: "Heimtücke" und "Hinterlist" waren demnach Merkmale des generellen weiblichen Geschlechtscharakters, die sich in der Giftmörderin - neben dem Kindsmord dem weiblichen Verbrechen schlechthin - markant ausgeprägt finden. "Der Giftmord stellt den Lustmord der Frau dar", hieß es im populären "Bilder-Lexikon der Sexualwissenschaften" (1930). Die Stereotypie dieser Zuschreibungen führt letztlich dazu, dass auch ein biologisch männlicher Giftmörder als "effeminiert" galt, "um der geschlechtlichen Konnotation des Giftmords als weiblicher Verbrechensform zu genügen."

Siebenpfeiffers Interesse richtet sich vor allem auf die Wechselwirkungen zwischen den juristischen und kriminologischen Konstruktionen einerseits und den literarischen Texten andererseits. Ihre diskursanalytische Untersuchung folgt Jürgen Links` Unterscheidung zwischen Spezialdiskursen - in ihrem Fall den juristischen, kriminologischen - und Literatur als vermittelndem Interdiskurs. Dem Wechselverhältnis der unterschiedlichen Perspektiven geht sie an drei, durch ihre Spektakularität gekennzeichneten "Verbrechensformen" nach: dem "Giftmord", dem "Kindsmord" und dem "Lustmord".

Den unterschiedlichen Umgang mit Stereotypen zwischen kriminologischen Spezialdiskursen und literarischem Interdiskurs zeigt der spektakuläre Giftmord-Fall "Klein/Nebbe". Die Ermordung des Tischlers Klein durch seine Ehefrau mittels in stetigen Dosen verabreichten Rattengifts zog insbesondere aufgrund der homosexuellen Liebesbeziehung der jungen Gattin ein besonderes öffentliches Interesse auf sich. Die Freundin Ella Kleins, Margarete Nebbe wurde der Mittäterschaft beschuldigt. Der kriminologische Diskurs ist vor allem durch die Ausblendung jeglicher Widersprüche gekennzeichnet, die sich bei der Applikation des geschilderten Giftmörderinnenstereotyp auf den konkreten Fall ergeben. Die Liebesbeziehung der beiden Frauen wurde zum entscheidenden Kriterium der sexualpathologischen Argumentation der Gutachter, zu denen auch der bekannte Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld zählt. Obwohl Hirschfeld um eine Entpathologisierung der Homosexualität bemüht war, gelangte er zu einem ähnlichen Urteil wie die anderen Gutachter. Letztlich, so Siebenpfeiffer, schilderten die Gutachten übereinstimmend die "giftmischende Frau als ein sexuell abnormes, psychisch deviantes, unmütterliches, unweibliches und zudem heuchlerisches, verschlagenes und sadistisches 'Wesen'".

Im Gegensatz hierzu relativiere Alfred Döblins in seiner auf den Fall Klein/Nebbe zurückgehenden Erzählung "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord" dieses Stereotyp, indem er das Motiv des Vergiftens zu einer umfangreichen Metaphorik ausbaue und die Tat der jungen Gattenmörderin als Konsequenz ihrer 'psychischen Vergiftung' durch den seinerseits als psychopathisch beschriebenen, gewalttätigen Ehemann schildere. Nicht zuletzt entkomme Döblins Erzählung durch eine im Epilog zum Ausdruck kommende "narrative Skepsis" der Eindimensionalität kriminologischer Erzählungen.

Während beim Thema Giftmord Geschlechterzuschreibungen vor allem auf der Gender-Ebene geleistet werden müssen, handelt es sich beim Kindsmord um ein Verbrechen, das schon in der juristischen Definition an das biologisch weibliche Geschlecht, die Mutter des getöteten Kindes gebunden ist. Mit diesem Straftatbestand (der außerdem die Unehelichkeit des Kindes vorsah) wurde naturalisierenden Geschlechterkonstruktionen Vorschub geleistet, die die psychische Verfassung der Frau nach der Geburt als pathogene Ausnahmesituation in den Blick nahm. Als weiblichen Gegendiskurs gegen diesen hegemonialen männlichen Diskurs liest Siebenpfeiffer die Gerichtsreportagen Gabriele Tergits, die über mehrere Fälle solcher moderner "Gretchen-Tragödien" berichtete und dabei vor allem die soziale Situation der angeklagten Frauen in den Blick rückte. Eine der bekanntesten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Motiv in der Weimarer Zeit ist sicherlich Brechts Ballade "Von der Kindsmörderin Marie Farrar". Für Siebenpfeiffer handelt es sich hierbei um ein Musterbeispiel für den eigenen Ansatz, deutet sie doch Brechts Ballade als Collage der verschiedenen Kindsmord-Zuschreibungen aus juristischen und theologischen Diskursen, mit dem Effekt, dass die "Kindsmörderin" Marie Farrar "als sprechendes Subjekt ausgelöscht wird".

Wurden mit Gift- und Kindsmord Verbrechensformen erfasst, die über eine längere auch literarische Tradition verfügen, handelt es sich beim Lustmord um eine erst im 19. Jahrhundert "erfundene" Verbrechensform, nicht zufällig ist der Lustmord auch das am meisten thematisierte und literarisch inszenierte Gewaltverbrechen des frühen 20. Jahrhunderts. Allein der Londoner Fall des Jack the Ripper sorgte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert für anhaltende Phantasmen. Siebenpfeiffer geht der "Erfindung des Lustmörders" in den 20ern in kriminologischen Diskursen wie in der Kunst, vor allem auch der Malerei der 20er Jahre nach. Aus dem Bereich der Literatur untersucht sie so unterschiedliche und auf ihre Weise spannende Beispiele wie Rahel Sanzaras Roman "Das verlorene Kind" (1926) und Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" (1929). An Döblins Roman zeigt Siebenpfeiffer die zahlreichen intertextuellen Verweise aus dem zeitgenössischen "Lustmord"-Diskurs auf, um hier aber (im Anschluss an Martin Lindner) zwei unterschiedliche, vornehmlich literarische Typen des Verbrechers auszumachen: den kalkulierend mordenden - und damit dem neusachlichen Verbrechertyp entsprechenden - "kalten Killer" Reinhold einerseits und den affekthaft Gewalt ausübenden - mithin expressionistischen - die "Kreatur" verkörpernden Franz Bieberkopf, dessen Position zwischen Täter und Opfer uneindeutig bleibt.

Den Abschluss von Siebenpfeiffers Untersuchung bildet der Fall Haarmann, der Skandal- und Sensationsfall der 20er Jahre. Der vielfache Mörder, der seinen Opfern, jungen Männern, "im Sexualrausch die Kehle zerbiss" und im Verdacht stand, Leichenteile als Fleisch verkauft zu haben, bot sich als Projektionsfläche für antimoderne und rassistische Verdikte an. Insbesondere wurde in den zeitgenössischen Berichterstattungen die Figur Haarmanns mit seinen - vor Gericht jedoch nicht zugelassenen - Gutachtern Magnus Hirschfeld und Theodor Lessing überblendet, damit wurden Gewaltverbrechen, Judentum und Homosexualität zu einander bedingenden "Entartungs"-Phänomenen und die Kriminalbiologie "in eine rassistisch-antisemitische, mithin explizit politische Semantik überführt."

Siebenpfeiffer nimmt an dieser Stelle zum ersten Mal die gesellschaftlich-politische Dimension des Gewalt-Diskurses in den Blick, die in früheren Arbeiten wie etwa Marie Tatars 1995 erschienener Studie über den "Lustmord" in der Kunst und Literatur der Weimarer Republik noch einen deutlich größeren Stellenwert eingenommen hatte. Die deutliche Konzentration auf die kriminologischen Spezialdiskurse und ihre Aneignung durch den literarischen Interdiskurs - zunächst ein wichtiges Verdienst von Siebenpfeiffers umfassender Studie - verstellt hier offensichtlich den Blick auf diesen sozialhistorischen Kontext.

Andererseits bleiben gerade im Fall Haarmann die hier besonders virulenten Geschlechtercodierungen etwas an der Oberfläche: Siebenpfeiffer liest in den Spezialdiskursen die Zuschreibung übersteigerter männlicher Sexualität an Haarmann - eine Bestimmung, die hinsichtlich der Homosexualität Haarmanns sicher differenziert werden muss. Gerade in dem von Siebenpfeiffer untersuchten "Reportageroman" Theodor Lessings, "Haarmann: Die Geschichte eines Werwolfs" (1925) werden Haarmann zahlreiche feminisierende Attribute zugeschrieben, die seinen "Fall" auch in Bezug auf die Geschlechtercodierungen spannend machen. Dass Siebenpfeiffer diese Ambivalenz entgeht, dürfte vor allem daran liegen, dass sie selbst an einer zweigeschlechtlichen Verbrecher-Typologie festhält, wie sie in den von ihr untersuchten kriminologischen Diskursen aufgestellt wird. Das Spektrum der Gendercodierungen und ihre vielfältigen Funktionen im Diskurs über Gewaltverbrechen gerät dabei manchmal aus dem Blick.

Insgesamt aber liegt mit Siebenpfeiffers Arbeit nun eine umfangreiche und ergiebige Untersuchung zu Gewaltverbrechen und ihren literarischen Inszenierungen in der Weimarer Republik vor, die die Bedeutung des Gewaltdiskurses für die Kultur der 20er Jahre eindrücklich aufzeigt.


Titelbild

Hania Siebenpfeiffer: Böse Lust. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik.
Böhlau Verlag, Köln 2005.
409 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-10: 3412175056

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