Jürgen Habermas zwischen Wahrheit und Rechtfertigung

Für einen Realismus der Alltagspraxis

Von Antje GimmlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Gimmler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wir betreten keine Brücke, an deren Statik wir zweifeln. Dem Realismus der Alltagspraxis entspricht ein - freilich nur performativ mitlaufender - Begriff von unbedingter Wahrheit, von Wahrheit ohne epistemischen Index." Eine solche realistische Intuition, die Wahrheit von bloßer Rechtfertigung unterschieden wissen will, zum Ausgangspunkt philosophischer Argumentation und Theorie zu machen, scheint insbesondere dem gesunden Menschenverstand Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dieser nämlich will von den anti-realistischen Versicherungen nichts wissen, die ihm einreden wollen, wir seien in unseren Sprach-, Denk- und Urteilsformen so eingeschlossen, dass weder der direkte, deutungsunabhängige Zugriff auf dasjenige gegeben ist, was Welt, Wirklichkeit oder Realität genannt wird, noch dass ein Drittes plausibel zu machen ist, das zwischen unserem Wissen und der Welt vermitteln könnte. Die realistische Intuition scheint die gesunde Haltung des Handelnden zu sein, dem die Realität sich - je nach Projekt - widerständig oder nachgiebig zeigt und der aus dieser Konfrontation lernt.

Jürgen Habermas sympathisiert in seinem neuen Buch "Wahrheit und Rechtfertigung" mit dieser Intuition, nicht ohne allerdings ihre Geltung zu problematisieren. Dabei zeigt sich das Grundanliegen von Habermas als durchweg ambivalent: einerseits will er der realistischen Intuition Rechnung tragen, er will die Notwendigkeit der Annahme einer von der intersubjektiv konstitutierten Lebenswelt unabhängigen 'objektiven Welt' aufzeigen. Andererseits aber ist sein eigener, in seinen früheren Werken entwickelter Ansatz der kommunikativen und intersubjektiven Vernunft genau der pragmatisch-kontextualistischen Position nahe, die er nun auf die lebensweltliche Teilnehmerperspektive einschränken will. Diese Einschränkung gelingt nicht ohne Revisionen seiner eigenen Theorie. Insbesondere seine vielkritisierte Konsensustheorie der Wahrheit wird von Habermas nun mit erkenntnisrealistischen Zutaten umformuliert.

Um diese Ambivalenz in der Bestimmung von Wahrheit und ihrer Begründung durch diskursive Rechtfertigung kreisen die in diesem Band versammelten acht sprach- und bedeutungsphilosophischen Arbeiten, die zwischen 1996 und 1998 entstanden sind. Nach dem großen gesellschaftstheoretischen Entwurf der "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981) und nachdem mit "Faktizität und Geltung" (1992) sowie den damit zusammenhängenden Studien "Die Einbeziehung des Anderen" (1996) die Diskurstheorie in der Form einer Rechts- und Demokratietheorie ausformuliert worden ist, geht Habermas jetzt denjenigen ontologischen und epistemologischen Fragen nach, die er nach eigener Aussage seit Beginn der siebziger Jahre ein wenig 'vernachlässigt' hat. Anders aber als am Ende der sechziger Jahre, z.B. in "Erkenntnis und Interesse" (1968), soll die Erkenntnis- und Bedeutungstheorie nun nicht mehr das Fundament der Gesellschaftstheorie bilden, sondern diese ergänzen.

In dieser Einschränkung der Begründungsansprüche theoretischer Vernunft spiegelt sich wider, was Habermas als eine Folge der pragmatischen Wende der Philosophie ausmacht: "ein bescheideneres und realistischeres Selbstverständnis" der Philosophie und die Fähigkeit "verschiedene funktional ausdifferenzierte Rollen übernehmen und spezifische Beiträge leisten" zu können. Das Bekenntnis zum philosophischen Pragmatismus führt aber beispielsweise für Richard Rorty, den fröhlichen Neopragmatisten und freundschaftlichen Gegner von Habermas im Dauermatch um den richtig verstandenen Pragmatismus, zu ganz anderen Konsequenzen. Nicht nur die Verankerung unserer Werte und politischen Überzeugungen in einer transzendentalen oder wie immer auch sonst gearteten theoretischen Basis ist für Rorty überflüssig, sondern auch die Aufteilung in die unterschiedlichen Begründungsansprüche der praktischen und theoretischen Vernunft und das Beibehalten 'härterer' Kriterien für Aussagen theoretischer Natur hält Rorty für unnötig. Dagegen setzt Habermas weiterhin auf diese Differenzierung. Es ist der von ihm sogenannte 'kantische Pragmatismus' in der Nachfolge von Charles S. Peirce, den er in dieser Sache präferiert.

Die "ontologische Arbeitsteilung", wie Habermas sie vorschlägt, unterscheidet zwischen einer detranszendentalisierten Intersubjektivität der Lebenswelt, in der wir als Teilnehmer kontextuell gebunden sind, und einer beobachtenden Bezugnahme auf die Welt, in der die Referenz auf deutungs- und sprachunabhängige Gegenständlichkeit vorausgesetzt sein muss. Diese Unterscheidung ist allerdings kein raffiniert daherkommendes Recyclingprodukt einer auf Platonische Unterscheidungen verpflichteten Philosophietradition. Vielmehr gewinnt Habermas der Debatte, wie sie im neopragmatischen Umfeld zwischen Richard Rorty, Hilary Putnam, Robert Brandom und Donald Davidson geführt wird, eine eigene, komplexe, wenn auch nicht unproblematische Position ab. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sie gerade die Verbindung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, also zwischen Erkenntnistheorie auf der einen Seite und Moraltheorie oder Gesellschaftstheorie auf der anderen Seite und damit die pragmatische Überzeugung vom Vorrang der Praxis vor der Theorie stark macht: "Objektivität der Welt und Intersubjektivität der Verständigung verweisen reziprok aufeinander." So gelungen diese Verbindung und insbesondere die gesellschaftstheoretische Ausformulierung der intersubjektiven Verständigung und des kommunikativen Handelns sein mögen, so schwierig erweist sich aber die genaue Bestimmung dieses reziproken Verweisungsverhältnisses.

Unentschieden bleibt nämlich bei Habermas, ob die Bezugnahme auf eine objektive und deutungsunabhängige Welt nur innerhalb eines sprachlichen und kulturellen Kontextes anzusiedeln ist oder ob vielmehr die Bezugnahme auf die objektive Welt zur Transzendierung der Sprach- und Deutungskontexte dienen soll, also ein Bezug zur objektiven Welt jenseits unserer Deutungen notwendig anzunehmen ist: "Einerseits muß die Sprachpraxis selbst die Bezugnahme auf sprachunabhängige Objekte, von denen etwas ausgesagt wird, ermöglichen. Andererseits darf die pragmatische Unterstellung einer objektiven Welt nur ein formaler Vorgriff sein, wenn sie beliebigen Subjekten - und nicht nur einem jeweils bestimmten Kreis von Zeit- und Sprachgenossen - ein gemeinsames System möglicher Bezugnahmen auf unabhängig existierende und raumzeitlich identifizierbare Gegenstände sichern soll."

Für die letztere Variante spricht, dass Habermas weiterhin an der Universalität der Geltungsansprüche der theoretischen und - in modifizierter Form - der praktischen Vernunft festhält und den Begriff einer unbedingten Wahrheit gegen ihre Identifikation mit Rechtfertigung aufrecht erhalten will. Die Partikularität der kulturellen und sprachabhängigen Kontexte soll für die theoretische Vernunft aufgebrochen werden durch eine wenigstens formal unterstellte objektive Welt, auf die sich alle Sprecher in Aussagen über etwas in der Welt beziehen und von der her die wahrheitsbeanspruchende Rede ihren Sinn erhält.

Die Rettung der Realität und das Aufbrechen des kontextualistischen Holismus wird aber noch von einer anderen Seite von Habermas betrieben. Ein "schwacher Naturalismus" nämlich soll gewährleisten, dass unsere Erkenntnisbemühungen in Form von Lernprozessen, die aus Handlungen mit der Welt resultieren, den evolutionären Lernprozess nur fortsetzen. Damit ist eine Kulturen und Geschichte übergreifende Perspektive auf einen kollektiven Lernprozess eröffnet. Der genetische Primat der Natur, so Habermas, erzwingt geradezu erkenntnisrealistische Annahmen. Realistische Intuition, Unterstellung einer objektiven Welt und schwacher Naturalismus fügen sich in das Konzept kommunikativer Vernunft nun so ein, dass Habermas daraus - in Auseinandersetzung mit Richard Rorty - einen Wahrheitsbegriff entwickelt, der beides zu sein versucht: Wahrheit qua Rechtfertigung und Wahrheit qua Bezug auf Realität. Dabei übernimmt das unbedingte Für-Wahr-Halten die Funktion einer Unterstellung, die alle argumentativen Rechtsfertigungsprozesse, in denen Für-Wahr-Gehaltenes sich mit Gründen ausweisen muss, leitet und orientiert. Die alltägliche Naivität des Handelnden, der über die Brücke geht, weil er keinen Grund hat, an deren Statik zu zweifeln, gerät damit zum Zielpunkt des Rechtfertigungsdiskurses. Dass dies auch die Gewissheit ist, die durch erfolgskontrolliertes Handeln und dessen Bewährung erreicht wird, betont Habermas immer wieder. Dies dürfte einer der stärksten Argumentationszüge seines Ansatzes sein: die pragmatische Wende so zu interpretieren, dass eine intersubjektiv verbindliche Welt sich nicht nur über Sprache und Deutungen herstellt, sondern auch durch Handlungen. Ob allerdings unsere zweifelsohne vorhandene realistische Intuition von Habermas nicht überstrapaziert wird, wenn er versucht, mit ihrer Hilfe den Ausweg aus dem argumentativen Rechtfertigen unserer Wahrheitsansprüche zu finden? Es könnte ja immerhin sein, dass diese Intuition eher eine Bequemlichkeit und eine manchmal nützliche Angewohnheit ist. Sie hilft uns bei der philosophischen Frage nach der Wahrheit nicht unbedingt weiter.

Titelbild

Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
300 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3518582739

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch