Kinder ihrer Zeit

Ein Sammelband zur Editionsgeschichte deutschsprachiger Autoren

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahrzehnten begannen die Editoren immer mehr eine Nischenposition innerhalb der Literaturwissenschaft einzunehmen. Während einerseits aus der allgemeinen philologischen Praxis, um nicht zu sagen: dem Handwerk des Edierens die hochreflektierte Disziplin der Editionswissenschaft entstand, wandten sich andererseits viele Literaturwissenschaftler vom zeitraubenden Geschäft der Textedition ab, wurden Sinn und Zweck immer aufwendigerer historisch-kritischer Ausgaben mitunter auch bezweifelt. Auch akademische Leser sind sich immer noch viel zu wenig im Klaren darüber, wie sehr die von ihnen gelesenen Quellentexte zu einem nicht geringen Teil auf das Konto von Vermittlern gehen, die sich anschickten, Probleme der Textentstehung und vor allem -überlieferung zu lösen, und das sind neben den Verlegern vor allem Herausgeber jeglicher Couleur, die Zugang zu Überlieferungsträgern haben und die technische Kompetenz der angemessenen Textdarbietung für sich reklamieren.

Editionsgeschichte, dies lehrt der vorliegende Band, ist - ähnlich wie die Geschichte der Literaturwissenschaften - eine der allmählichen Professionalisierung und Spezialisierung. Dem Selbstverständnis nach anspruchsvolle Editionen des 19. Jahrhunderts wurden durchaus von Nicht-Fachleuten verantwortet und richteten sich an ein breites Publikum. Editionsgeschichte ist daher nur bedingt als Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, und vorerst wäre ohnehin am besten von einer Archäologie der Editionspraxis zu sprechen, wie es der Reihentitel "Bausteine zur Geschichte der Edition" ja auch andeutet. Indem sich die Editionswissenschaft einer Geschichte der Editionspraxis zuwendet, die sich nicht mehr auf bloße positivistische Darstellungen von Ausgaben und Editionsrichtlinien beschränkt, indem sie also Diskursgeschichte des Edierens (und vielleicht auch der Rezeption bestimmter Ausgaben und Ausgabentypen) schreibt, löst sie allmählich den Anspruch ein, sich von einem möglichen Selbst- und zumal Fremdbild des Technizismus zu distanzieren und die mutmaßlich immensen Auswirkungen von Editionspraktiken auf Wahrnehmung und Einstellung der Leser in den Blick zu nehmen. Damit könnte sie aber von ihrer eher peripheren Position ins Zentrum der Literaturwissenschaft vorstoßen und, wenn sie die enge Anlehnung an einzelne Autoren und einzelne Editionen allmählich aufgibt, zu einer Diskursgeschichte der Literatur beitragen.

Einen Anfang macht der von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta herausgegebene und zusammen mit 19 weiteren Autoren verfasste Band; sämtliche Beiträger haben sich als Editoren und/oder Editionswissenschaftler ausgewiesen. Manchmal etwas trocken, aber auch angenehm unprätentiös, wie es dem Habitus des Editors entsprechen mag, entfaltet sich die Abfolge von editorischen Marksteinen meist vom Tod des Autors bis in die Gegenwart. Typischerweise beginnt diese implizite Teleologie der Editionsgeschichte mit dilettierenden Versuchen von Freunden und Nachlassverwaltern, sie endet in sich überbietenden aufwendigen historisch-kritischen Editionen, die, so lässt sich resümieren, mittels editorischen Apparats und immer mehr mittels (digitalisierter) Bilder den Leser immer näher an die unmittelbare Entzifferung der Handschrift heranführen. Den Schwerpunkt der materialgesättigten, in der Regel aber auch gut lesbaren Aufsätze bilden in der Regel die wissenschaftlichen, idealiter die historisch-kritischen Editionsbemühungen, auch da, wo sie ohne kontrollierbares Ergebnis blieben, wie im notorischen Fall Kleists. Im Gegensatz zu manchen editionspraktischen Einführungen zeigt der Band, dass 'Edition' kein zu erlernendes Handwerk sein kann, sondern ein wissenschaftliches Verfahren ist, das für jeden Autor, für jede Überlieferungslage eigene Lösungsmodelle entwickeln muss, will es über den nivellierenden Textdarbietungsstandard der Studienausgabe hinauskommen.

21 Beiträge widmen sich jeweils einem Autor der Neueren deutschen Literatur; abgesehen von Grimmelshausen reicht das Spektrum zeitlich von Klopstock bis Celan. Damit sind die meisten anspruchsvollen 'Fälle' versammelt, in der Regel Autoren, deren handschriftlicher Nachlass komplex ist und/oder deren oft vielgelesene und einflussreich gewordene Texte nur schwer an eine Autorisation rückzubinden sind. Nicht fehlen dürfen also Hölderlin, Kleist, Büchner und Kafka. Allerdings hätten zwei weitere Autoren, deren Wirkungsgeschichte sehr stark durch eine problematische Editionslage bestimmt wurde, ebenfalls nicht fehlen dürfen, nämlich Novalis und Nietzsche. Die autorzentrierte Anlage des Bands gehorcht zunächst einmal den editorischen Arbeitsweisen - den Autorbegriff problematisiert kaum einer der Beiträger, wenngleich Briefeditionen und sonstige kollektive oder ungesicherte Autorschaften Anlass böten. Lediglich Fotis Jannidis' Artikel zur Geschichte der elektronischen Edition überschreitet diesen Rahmen. Querverbindungen werden in manchen Beiträgen gezogen, insbesondere da, wo es um wirkmächtige Großprojekte wie die Weimarer Goethe-Ausgabe, Beißners Hölderlin-Ausgabe oder Zellers Meyer-Ausgabe geht. Personen- und Sachregister hätten allerdings dem interessierten Querleser weitergeholfen und den angezielten Handbuch-Status zementiert. Nun aber muss man sich schon dem gesamten 500-Seiten-Band widmen, um etwa über nationalsozialistische Editionspolitik zu erfahren, dass Hölderlin und Schiller zwar bekanntermaßen gefördert wurden, eine durch Heinrich Himmler angestoßene Klopstock-Ausgabe jedoch nicht zustande kam.

Nicht nur von Textfehlern und Emendationen ist in diesem für die deutschsprachige Literatur bisher einmaligen Band die Rede - das "Handbuch der Editionen" wäre als Vorarbeit zu nennen -, sondern auch vom Mäusefraß, der Büchners Manuskript seiner Probevorlesung "Über Schädelnerven" zu schaffen machte. Und auch die kulturellen, politischen, wissenschaftlichen Kontexte, die editorische Entscheidungen (und deren Unterlassung) immer wieder mitbedingen, werden, zumindest zwischen den Zeilen, immer wieder angesprochen. Dass Editionen zum Politikum werden können, zeigt nicht nur die Editionsgeschichte der Werke von Marx und Engels, sondern auch die Schillers oder Heines: Während die Schiller-Nationalausgabe nach 1945 zum Symbol editorischer Eintracht zwischen Ost und West werden konnte, erwuchsen in den beiden historisch-kritischen Heine-Ausgaben diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs Konkurrenten.

Qualität und Erfolg von Editionen sind oft schwer in Einklang zu bringen - das kann buchhändlerische Gründe haben oder auch solche der leichten oder schweren Benutzbarkeit. Doch wird der Erfolg einer Ausgabe auch über die Erfolge literaturwissenschaftlicher Lektüren entschieden, sprich: setzt sich eine zuverlässige Edition beim wissenschaftlichen Leser durch, sind auch Auswirkungen auf dessen Deutungspraxis zu erwarten. Die Rekonstruktion solcher Zusammenhänge wäre nicht nur wissenschaftsgeschichtlich, sondern auch editionspolitisch von Interesse, diente doch der Legitimation einer teuren Edition nichts mehr als ein Rezeptions- und Forschungsboom. Mangelndes Leserinteresse oder eine komplizierte Überlieferungslage vermögen aber umgekehrt die Entstehung anspruchsvoller Editionen nachhaltig zu behindern; ersteres wird durch Günter Arnold für Herder konstatiert, letzteres gilt seit langem und bis in die Gegenwart hinein etwa für Ludwig Tieck, der in diesem Band dementsprechend fehlt.

Die Veränderung von Lesegewohnheiten durch das Anschwellen elektronischer Editionen wäre ein besonders brisantes Thema, bedenkt man, dass kaum 15 Jahre vergangen sind, seit der mit der Hamburger Goethe-Ausgabe auf 50 Disketten belieferte Leser erstmals einen Vorgeschmack auf künftige 'Volltextsuchen' haben konnte.

Natürlich erfährt der Leser etwas über die Editionspolitik der "Goethe-Philologie" (Wilhelm Scherer). Doch eine Geschichte der Edition müsste künftig über die in vorliegendem Band dominierende Ausgabencharakteristik hinaus grundsätzlich Nachlass- und Archivgeschichte werden. Eine Editionsgeschichte als Diskursgeschichte hätte sich zu fragen, was zu welchem Zeitpunkt gerade und ausschließlich in Editionen 'sagbar' war - in der Sprache des Edierens: in Textkonstitution, Apparat, Stellenkommentar, offensichtlicher dann in Vor- und Nachwort. Solche Kontextualisierungen werden Editionen erst recht als Kinder ihrer Zeit ausweisen; und natürlich trifft dies ähnlich auf die beteiligten Editoren, Archivare und Autographensammler zu. Hochgradig sensibilisiert ist für diese Zusammenhänge Annette Steinich(-Schütterle) mit ihrem Beitrag über Kafka, hat die Autorin doch bereits eine einschlägige Monografie vorgelegt.

Viele der Beiträge bestätigen, dass der Trend zur Digitalisierung von ediertem Text und Handschrift unumkehrbar geworden ist. Die von früheren Editoren in der eigenen Praxis mitunter negierten Unsicherheiten angesichts nicht zu leugnender Bedeutungspluralitäten moderner Texte werden heute an den Leser weitergegeben. Bei allem Optimismus des Faksimilierens und Fotografierens kann dies allerdings bedeuten, dass sich dieser Leser auch zunehmend eine dem Editor wohlbekannte Rolle zu eigen machen soll: die des ob der Materialfülle zunächst einmal ratlosen Archivbenutzers, der das Lesen neu erlernen muss.


Titelbild

Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta (Hg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005.
470 Seiten, 84,00 EUR.
ISBN-10: 3484297026

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