Ein Standardwerk

Ulrich Schreibers bald vollständiger Opernführer

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mögen auch Werke des 18. und 19. Jahrhunderts die Spielpläne der Opernbühnen beherrschen - die Gattung hat in den vergangenen Jahrzehnten nichts von ihrer Lebenskraft eingebüßt. Indiz dafür ist, dass nun von Ulrich Schreibers "Opernführer für Fortgeschrittene" ein weiterer Band vorliegt, der indessen nicht, wie geplant, das Gesamtwerk abschließt. Offensichtlich erweist sich der Stoff als so umfangreich, dass zum 20. Jahrhundert sogar ein dritter Teil notwendig wird.

Stellte der erste, 2000 erschienene Band die deutsche und italienische Oper bis 1945 vor, so schildert der Mittelteil der Trilogie die Entwicklung in diesen beiden Ländern bis in die Gegenwart sowie die Geschichte der Oper in Frankreich und Großbritannien vom späten 19. Jahrhundert bis hin zu neuesten Werken. Ein abschließender Band wird dann Nord- und Osteuropa sowie außereuropäische Länder behandeln.

Eine solche Einteilung in Nationalkulturen ist, wie Schreiber weiß, problematisch. In einem Vorwort führt er selbst Fälle an, in denen die Zuordnung kritisiert werden könnte. So waren britische Komponisten an der Wende zum 20. Jahrhundert, als es in ihrer Heimat noch keine ständige Opernbühne gab, weitgehend auf Inszenierungen in Deutschland angewiesen. Und wohin gehört der emigrierte Ungar Ligeti, dessen Gattungsbeitrag "Le Grand Macabre" in Stockholm auf Schwedisch uraufgeführt wurde? Wohl zu Recht ins Deutschland-Kapitel, denn er lebte und wirkte vor allem in Deutschland.

Man mag darauf verweisen, dass Musik eine international verständliche Sprache sei und fremdsprachlich Gesungenes im Zeitalter der Übertitelung von Opern sogar eher verstanden wird als deutsche Texte. Dennoch sind die Aufführungschancen im eigenen Sprachraum immer noch deutlich höher als im Ausland, aus musikästhetischen Gründen wie auch aufgrund persönlicher Beziehungen, die für eine so kostenträchtige Entscheidung, eine Novität auf den Spielplan zu setzen, hilfreich sind. Eine nationalkulturelle Einteilung ist also sinnvoll.

Schwierig - schwieriger jedenfalls als im ersten Teilband - gestaltete sich die Binnengliederung der Kapitel, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen fehlen, bis auf vierzig freilich substanzreiche Seiten über Benjamin Britten, Kapitel zu herausragenden Komponisten, während der Vorgängerband fast monografische Arbeiten zu Richard Strauss und Giacomo Puccini einschloss. Zum anderen konnte Schreiber für Deutschland und Italien vor 1945 Operngeschichte im unvermeidbaren Bezug auf den Faschismus auch als Politikgeschichte zeigen; dagegen fehlt für die Zeit danach und für andere Länder ein solch zwangsläufig strukturierendes Moment. Vor allem aber wird die geschichtliche Einordnung umso schwieriger, je näher man der Gegenwart rückt; und Schreiber rückt ihr sehr nahe, berücksichtigt noch Uraufführungen des Erscheinungsjahres 2005.

Das hat Konsequenzen, für Auswahl und Wertung. Hier zu kritisieren, ist ein Leichtes. Verdient es Karlheinz Stockhausens siebenteiliger Zyklus "Licht", dessen musikalische und dramaturgische Schwächen und vor allem dessen fragwürdige Ideologisierungen Schreiber durchaus benennt, auf fast zwanzig Seiten vorgestellt zu werden - während Hans Werner Henzes Bühnenwerke nach "Die englische Katze", darunter eine so gewichtige Oper wie "Das verratene Meer", nur kursorisch behandelt sind? Warum ist ein bemerkenswerter Komponist wie Jan Müller-Wieland nicht einmal erwähnt und sind die Mythendeutungen Volker David Kirchners, die auf der Bühne um vieles sinnfälliger werden als Stockhausens Privatmythologie, wirklich qua Nebenbemerkung als "schwammig" abzuqualifizieren? Sind so verschiedene Komponisten wie Hans-Joachim Hespos, Hans Zender, Rolf Riehm und Jörg Herchet wirklich in der Rubrik "Wider die Postmoderne" zusammenzufassen?

Während ausländische Komponisten lässiger - und das heißt im Zweifelsfall offener - behandelt sind, ist die Darstellung der Deutschen von einem interessanten Widerspruch geprägt. Schreiber betont einerseits die Befreiung, die die Abkehr vom Serialismus Darmstädter Prägung und von seiner Feindschaft gegen tradierte Gattungen bedeutete. Ohne dass sich Dogmatismus in den Vordergrund drängen würde, ist hingegen die deutsche Produktion der Gegenwart daran gemessen, ob sie denn den Ansprüchen des Modernen genüge. Hier bleibt noch Raum für die Auseinandersetzung über Wertungen und für die Spannung darauf, wie Schreiber denn im Schlussband so unterschiedliche Phänomene wie die amerikanische minimal music oder den politisch bedingt publikumsbezogenen russisch-sowjetischen Weg in die Moderne vorstellen wird.

Jedenfalls treten Kritikpunkte gegenüber den Vorzügen des Opernführers in den Hintergrund. Wie die vorangegangenen Bände enthält auch dieser eine große Zahl erhellender Werkdeutungen. Schreiber zeigt exemplarisch, wie Musik sprachlich wiederzugeben ist. Zwar skizziert er, wo nötig, Handlungsverläufe der Opern - doch liegt das Gewicht stets auf der ästhetischen wie dramaturgischen Bedeutung, die die Musik im Musiktheater hat. Sprechen über Musik verfällt fast stets mindestens einem von drei Fehlern: der selbstzweckhaften Aufzählung technischer Details, der voreiligen Identifikation musikalischer Figuren mit einem bestimmten Inhalt oder einem gefühligen Geplapper, das sich im Stimmungshaften verliert. Schreiber indessen vermeidet alle drei Irrwege, bezieht stets die Analyse auf seine Interpretation und schildert die Musik derart überzeugend, dass man häufig wünscht, sie doch gleich hören zu können; man mag es als Zeichen seiner Kunst ansehen, dass hin und wieder sogar die Schilderung zwingender gerät als das, was man hören würde.

So ist die Beschreibung stets mindestens auf der Höhe der Werke, denen tatsächlich allein ein "Opernführer für Fortgeschrittene" gerecht wird. Notwendige Fachtermini sind in einem Glossar nachvollziehbar erklärt, doch zum Glück nicht vermieden; erst so wird eine Verständigung über den Gegenstand möglich. So widersetzt sich Schreiber dem üblen Trend, Hochkultur vorzukauen und damit letztlich den Weg zu ihr zu versperren; einer Zumutung, die nebenbei bemerkt jede massenhaft verkaufte Angler- oder Jägerzeitung von sich weisen würde.

Zu der Vielzahl überzeugender Werkanalysen auf engem Raum tritt eine noch sehr viel größere Menge kurzer Skizzen vielfach kaum zugänglicher Werke. Sie zeugen vom lebenslangen, aufmerksamen Hören des bald siebzigjährigen Autors und eröffnen einen umfassenden Blick auf die Opernproduktion eines halben Jahrhunderts, wie er an keinem anderen Ort zu bekommen ist. Mag sich auch die Wertung neuerer Werke noch verändern: auf absehbare Zeit ist auch dieser Teilband ein Standardwerk, und es zu übertreffen wird schwer fallen.


Titelbild

Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters. Das 20. Jahrhundert II: Deutsche und italienische Oper nach 1945. Frankreich. Großbritannien.
Bärenreiter Verlag, Kassel 2005.
727 Seiten, 47,50 EUR.
ISBN-10: 3761814372

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