Leben, im toten Winkel

Psychogramm einer Getriebenen, Durchtriebenen: Michael Stavarics Roman "stillborn" lässt einen atemlos zurück

Von Ulrike MatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Matzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Jetzt ist schon wieder was passiert." Mit diesem legendären Intro nimmt jeder Wolf Haas-Krimi seinen Lauf und Kommissar Brenner, der Ich-Erzähler, einen neuen Auftrag an. Gegenläufiger dazu könnte "stillborn" von Michael Stavaric nicht sein: "Es ist wieder nichts passiert", so der Grundton des Buchs, ebenfalls ein Kriminalroman. Oder deren zwei in einem. Hechelnd, hetzend, in kurz- wie flachatmigem Stakkato, psychogrammartig notiert, aus der Perspektive einer Pyromanin. Denn, soviel vorweg, was den Fortgang der Erzählung anlangt, wird nicht lang herumgefackelt.

Das heißt, genau genommen schon, sogar recht fahrig. Weist doch alles darauf hin, dass es brenzlig wird, wird mit dem Feuerzeug gespielt, dass es nur so raucht. Der eigentliche "thrill" der Story bebt im latenten Kippzustand der jungen Frau, die sich selber kaum mehr spürt und manches nicht erinnern kann: "Was passiert mit mir, was ist mit mir passiert?" Und darin, wie Sprache, ihr Rhythmus das (un)heimliche Vibrieren transportiert: "Lebe, atme, atme, laufe los, leere Zimmer, Wohnung, Lerchenfelder Straße, 90m² (...)".

Denn ihre Leidenschaft gilt leeren Räumen. Als Maklerin macht sie ihren Job, hält Kunden bei der Stange (so und so) und sich selbst auf Trab: manisch übersteigerte Routine, die sie zum Leben braucht, wie Luft zum Atmen. Zum eigentlichen Sein erwacht sie nachts, allein, hinter versperrten Türen unbewohnter Mietobjekte. Bis eines Tages eine Serie mysteriöser Brandstiftungen beginnt. Die Ermittler irren allesamt im Dunkel. Bis auf Georg, der hellauf entflammt, in Liebe zu ihr. Mit ihm treten ungeklärte Mädchenmorde aus ihrem Kindheitsumfeld an das Licht, ihre Mutter kommt ins Spiel...

Obwohl man bald ahnt, wie der Hase läuft, schlägt der Text einen Haken nach dem andern, mit dem Taktstock, Schlagstock jedes Kommas, treibt er die Erzählung weiter. Führt die latente Doppelbödigkeit der Sprache auf heiße Spuren wie aufs Eis. Hindert einen unablässiges Getriebensein am Brüten über Sprach(verwirr)spielen. Ein Wort ergibt das nächste, jede Bewegung, jedes Einzelbild im Blick: "nick, nick", "ich bremse, bremse, bremse". Sukzessiv, fast durchweg im Präsens, atemlos, knapp, dicht erzählt, bleibt man der Frau auf den Fersen. Und an den Absätzen des Texts. Nur, zu fassen sind sie beide nicht: listig, in sich widersprüchlich, fies. Die Geschichte bleibt ein Rätsel, wie die Protagonistin (sich) eins ist.

Eins ist sicher, immerhin: Im Dissimulieren ist sie meisterhaft. Nach außen hin hui, sieht es in ihr hässlich aus. Symptome psychischer Verstörungen und Zwänge schieben sich übereinander, auseinander fällt ihr Ich: "War das ich, du, sie, mein Kopf prallt an die Tür, zurück, prallt noch einmal, es fühlt sich taub an." Verzerrt - und scharf wie ein Brennglas - ist ihre Sicht, auf sich und die andern. Abrupte Situations- und Sprechpositionswechsel, als solche nicht erkenntlich, markieren dies. Ähnlich passiert einander ins Wort zu fallen, im Zusammenfall von Sätzen: "Er dachte schon, was dachtest du? Ich dachte, du hättest anderswo geschlafen, ich schüttle verwundert den Kopf, er denkt also mit." Auch innerhalb von Wortkolonnen kommt es zu grotesken "crashs": "Zeit genug, um meine Nägel zu lackieren, die Lippen, die Zähne, die Zunge. Die Wohnung, Ungargasse (...)". Ebenso eingeworfen werden Redewendungen und Floskeln, werden Märchenszenen, Songtitel geschnappt, Werbeslogans, Comiclaute, werden - "autsch!" - stehenden Phrasen Beine gemacht. Kalauer führen mithin Regie, geben Anweisung für schräge Bildchen, wie absurde Dramolette. Theater spielen, Rollen wechseln, Entwürfe für ihr Leben proben, in Gantenbeins Manier ("ich stelle mir vor"), um sie zu verwerfen: Das heile Familienmodell ist ausgelaufen, Gender-Grenzen sind fluid. Unentschiedenheit wankt syntaktisch hin und her ("soll ich, soll ich nicht"), wie auf einer Waage, der Beistrich Zünglein, "nicht" Ausschlag gebendes Gewicht. Über zweideutige Wörter oder Phrasen als Scharnierstelle im Satz, die sich nach vorne neigen, hinten, schaukeln sich Form und Inhalt wechselweise auf: ein Perpetuum mobile-Effekt. Die Gespanntheit, Überspanntheit tickt so im Satzbau und -sinn: lebende Bombe, schlafender Vulkan. Trotzdem, nein, deswegen zieht Frau Frankenstein (einer der ominösen Namen) als "Monster", mutmaßliche Täterin, Sympathie an sich, wie sonst nur Mr. Ripley. Hellwach, schnell im Schalten, verblüfft sie durch Scharfsinn, Sarkasmus, Ironie. Auch (gegenüber) sich.

Man möchte sie an sich nehmen, halten, die Unbehauste, die von einer Wohnung in die nächste flieht, in ihr Auto, immer auf hohen Touren läuft. - Eigentlich läuft ohnehin alles, könnte man meinen (wie Fernseher, allerorten - der Plot für Michael Haneke, auch puncto innerer Vergletscherung): "Weiter, immer weiter, es geht immer irgendwie weiter" - und doch kommt nichts voran, bleibt alles in der Schwebe. Die Leserin, der Leser darf jedenfalls selbst reichlich Ermittlungsarbeit leisten. Roten Fäden folgen. Schicht um Schicht freilegen. Wieder Neues sehen. Einen existenzialistischen Roman etwa, über die Leere, das Nichts. Einen Zyklus Todesarten. Et cetera.

Michael Stavaric bewegt sich in einer Tradition, die Sprache als Material begreift, sie sich also schnappt. Und sie schnappt zurück, wenn er sie lässt. Gleichzeitig katapultiert er sich über Bisheriges hinweg, wie richtungweisendes Schreiben es an sich hat. Und der Roman, der hat's in sich. Über banales, verknapptes Vokabular, über weit gehende Einsilbigkeit solche Sprachgewalt zu erreichen. Die Psychologie einer Exzentrischen derart komplex anzulegen wie den Text. Und den euphonisch rhythmisiert, über Ligaturen, Pausen, Wiederholungen und Variationen. Lakonisch, bündig, dabei leichtfüßig, verspielt. Ein unerhörter, unerhört verführerischer Ton, pulsierend, zwischen Prosa und Poesie, der auch dann rein- und nahe geht, wenn frau/man nicht mit dem Seziermesser an den Roman heran. (Und selbst spitzfindigsten Obduktionen hält er locker stand.)

Michael Stavaric gelingt mit jedem Buch einen neuer Ansatz, ein je eigener Sound und guter "Drive". Dabei tragen alle unverkennbar seine Handschrift. Schon in seinem Prosadebüt "Europa. Eine Litanei" (2005) hebt jeder Satz mit einem "und" an, gibt, Schwung holend, dem Ganzen einen Drall, über 200 Seiten fort. Und im Kreis, wieder von vorn...


Titelbild

Michael Stavaric: Stillborn. Roman.
Residenz Verlag, Salzburg 2006.
176 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3701714401

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