Wer ohne Schuld ist...

Joseph Kanons kleine erzählerische Abhandlung über die Unmöglichkeit, schuldlos zu sein

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welcher Held könnte reiner vor uns stehen als dieser Adam Miller? Der Zweite Weltkrieg ist soeben zu Ende, die Welt liegt in Trümmern, und der junge Amerikaner forscht von Amts wegen nach deutschen Kriegsverbrechern und Nazischergen. Entnazifizierung. Er hat viel gesehen, er hat viele gesehen, die Täter waren und es abstritten, und er hat versucht, sie zur Verantwortung zu ziehen. Dafür hat er hinter die Kulissen geschaut, kennt Beziehungen, Verpflichtungen und Freundeskreise, die ihre Interessen, und sei es mit Gewalt, durchsetzen, und für die Rassismus und das Gefühl absoluter Überlegenheit selbstverständlich sind. Er selbst hat das reine Gewissen der Sieger, deren eigene mögliche Untaten im Angesicht dessen verblassen, was die Deutschen mit sich und der Welt angestellt haben. Außerdem war er immer nur ein Schreibtischtäter, niemand, der wirklich selbst Hand anlegen würde. Also das reine Gewissen und die Schuldlosigkeit in Person. Und so jemand muss einfach Adam heißen und Miller dazu. Der erste allgemeine Mensch? Wir wissen, wie das damals ausgegangen ist. Sämtlicher Schweiß und sämtlicher Gebärschmerz nur wegen des einen Apfels.

Aus der Army entlassen, zieht es Adam Miller nach Venedig - weg von dem Grauen der Leichenberge und der zahllosen Ex-Nazis, weg von einem Trümmerberg, bei dessen Anblick von Neuaufbau noch keine Rede sein kann. In ein Venedig, das so unberührt scheint vom Krieg, der am Ende dann sogar über das Land hinweggegangen ist, von dem er ausging. Aus den Trümmerlandschaften in die von baufälligen Palazzi und alten Familien beherrschte Lagunenstadt. Eine traumhafte Kulisse, in der es sich auch und gerade jetzt leben lässt und in der man leben lassen muss, umflort von einer merkwürdigen Melancholie, von der niemand so recht weiß, woher sie kommt. Denn alles ist doch wieder so, wie es sein muss. Die Stadt dümpelt immer noch in der Lagune, Wasser ist immer noch ihr Element und ihre große Geschichte ein sicheres Fundament, auf dem sie auch die modernen Zeiten überleben wird. Die Faschisten sind auch hier verschwunden, das alte Leben, das vor allem durch die Deutschen aus der Balance gebracht worden war, beginnt sich wieder herzustellen. Die gute Gesellschaft beginnt wieder ihren Platz einzunehmen.

Millers Mutter hat sich hierher zurückgezogen, eine wohlhabende Witwe, die aus dem ungeliebten Amerika in ein Italien geflüchtet ist, in dem sie ihre Freundinnen treffen kann und wo schließlich auch ein alter Verehrer lebt, der zu den großen alten Familien der Stadt gehört. Und was das bedeutet, wissen wir spätestens seit Donna Leon. Beziehungen hinter den Kulissen, Einflusssphären, die ineinander übergehen, geschlossene Gesellschaften, zu denen niemand Zutritt erhält, der nicht wenigstens genügend Geld dafür mitbringt. Aber auch das ist als Eintrittsbillet nicht wirklich ausreichend. Denn die alte Familie geht vor. Aber nach dem Krieg muss man sich gut stellen mit den Amerikanern und sie sich zu verpflichten suchen. Und wenn dann noch die Liebe hinzukommt? Die Heirat der beiden steht an. Nur der Sohn spielt nicht mit, weiß man doch, wie so etwas vor sich geht: Wohlhabende Witwe trifft verarmten italienischen Stadtadel - eine günstige Gelegenheit, die auszunutzen für einen Latin-Lover auch gehobenen Alters nicht wirklich schwierig sein dürfte. Immerhin geht es um das Familienerbe und einen maroden Palazzo.

Als Adam sich schließlich selbst verliebt, und seine Freundin eben diesen Bräutigam beschuldigt, ihren Vater an die Nazis ausgeliefert zu haben, kocht der Konflikt erst richtig hoch. Es kommt zum öffentlichen Eklat, der nicht zuletzt Mutter und Sohn einander entfremdet. Bemüht Adam sich doch danach intensiv, seinen Stiefvater in spe ans Messer zu liefern. Es kommt zum Streit, zur Aussprache, es werden Geschichten erzählt, alles vielleicht nur Ausreden. Und nach einer Weile ist der Dottore tot.

Kanon würfelt mächtig mit seinen Figuren und rüttelt dabei die anfänglich einfache Aufteilung von Opfer und Täter ganz schön heftig durcheinander. Am Ende haben schließlich alle ihre Unschuld verloren. Die unschuldig Schuldigen sind aneinander gekettet und bleiben unbehelligt, zu Unrecht Beschuldigte werden zu Mördern, Partisanen verlieren ihren moralischen Status, wer wohlhabend scheint, ist verarmt und wer als arm gilt, entpuppt sich als gute Partie - Adam Miller ist mittendrin, verliert seine Unschuld und irgendwie bleibt in Venedig alles so, wie es immer war. Es gibt einige Familien, die das Sagen haben, und zu ihnen zu gehören ist eine Frage der historischen Dignität, nicht aktueller Verdienste.

Joseph Kanon treibt ein böses Spiel mit seinen Lesern, aber ob man ihm das übel nehmen soll? Alles fängt ganz harmlos an, der Auftakt ist ganz einfach gestrickt. Personen treten auf und nach kurzer Zeit wissen wir, was wir von ihnen halten sollen. Vielleicht ist Adam wirklich ein bisschen leichtgläubig, aber frisch verliebt? Wer wollte es ihm verargen.

Aber "Stadt ohne Gedächtnis" nimmt eine unerwartet rasante Kehrtwendung und aus dem moralinen Stück über deutsch-italienisch-amerikanische Vergangenheitsbewältigung wird ein Verwirrspiel um Beziehungen, familiäre Bande, Ein- und Wertschätzung, Rache und Wahrheitssuche und darüber, was ein Paar zusammenhält und auseinander bringt. Nachdem der Roman dann endlich die Fahrt aufgenommen hat, die ihm gebührt, ist er auch nicht mehr zu stoppen. Kanon verstößt dabei gegen ein paar ungeschriebene Romangesetze: vor allem gegen das, dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden müssen. Zurecht, denn wenn keiner mehr ganz gut oder ganz böse ist, wer wollte sich das Recht herausnehmen, zu strafen? Oder zu belohnen? Vielleicht ist das eine ganz interessante Variante zu Selbstgerechtigkeit, mit der Krimiautoren Lohn und Strafe sonst zu verteilen belieben. Vielleicht ist Kanons Buch deshalb so lesbar, weil es einfach, was das angeht, konsequent ist. Im Leben, und sei es im Leben eines Kriminalromans, geht es nun mal nicht gerecht zu.


Titelbild

Joseph Kanon: Stadt ohne Gedächtnis. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein.
Blessing Verlag, München 2005.
510 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3896672819

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