Lady mit Tatoo

Ian Kershaws Milieustudien über die britische Aristokratie der Zwischenkriegszeit

Von Wolfgang WippermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Wippermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lord Londonderry muss man nicht kennen. Man kann schließlich nicht mit jedem britischen Hinterbänkler und Luftfahrtminister vertraut sein. Zu mehr hat es dieser unermessliche reiche Lord auch gar nicht gebracht. Eine zweifelhafte Bekanntheit erlangte er durch seine Deutschlandreisen, bei denen er auch von Hitler empfangen wurde. Dies brachte ihm wiederum den Ruf ein, ein Appeasement-Politiker und Freund des Diktators zu sein. Dabei war es keineswegs Londonderry allein, der versucht hat, Hitler zu beschwichtigen. Doch nach dem schmählichen Ende der Appeasement-Politik wurde gerade Londonderry zum Sündenbock der verfehlten britischen Deutschlandpolitik der 30er Jahre insgesamt gemacht.

Sie, die britische Deutschlandpolitik, wird von Ian Kershaw ausführlich darge stellt. Dies in der ihm eigenen und in seinem Hitler-Buch schon unter Beweis gestellten nüchternen, zuverlässigen, aber leider auch keineswegs faszinierenden Art. Neues gibt es nicht zu berichten. Dies war auch kaum möglich. Londonderry war es zweifellos nicht, der England und die Welt "in den Krieg" geführt hat. Dafür war er einfach zu unbedeutend.

Nicht unbedingt bedeutend, aber neu und wirklich faszinierend geschrieben sind jedoch Kershaws Mileustudien über die britische Aristokratie, die in seine sonst ziemlich langweilige Diplomatiegeschichte eingestreut sind. Dies beginnt schon mit der über Lord Londonderry selbst. Ein geradezu prototypischer Vertreter der englischen Aristokratie: Spross einer Familie, die im 17. Jahrhundert während der "plantations" (in der deutschen Übersetzung heißt es, dass die Londonderrys als "Pflanzer" nach Irland gekommen seien) große Ländereien in Irland erworben (ein viel zu schwaches Wort) hatten. Im 18. und 19. Jahrhundert kamen noch Bergwerke in England hinzu. Der riesige Besitz wurde durch, man kann es ruhig sagen, rücksichtslose Ausbeutung der irischen Land- und englischen Bergwerkarbeiter vermehrt.

Lord Londonderry besaß schließlich 10.000 Hektar Land in Irland und weitere 11.000 Hektar in England. Er unterhielt fünf Landhäuser und die prächtige Stadtresidenz Londonderry House unweit vom Buckingham Palace. Hier versammelten sich die Spitzen der englischen Gesellschaft. Empfangen wurden sie von Domestiken in Kniehosen und gepuderten Perücken. Es war, wie schon ein Zeitgenosse bemerkte, wie im ancien régime.

Was heißt wie? Lord Londonderry benahm sich geradezu so, als ob das ancien régime in England niemals zu Ende gegangen sei. Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass er eine ähnliche politische Karriere wie sein Vorfahre, der zweite Marquess of Londonderry Lord Castlereagh, machen müsse - er vertrat England auf dem Wiener Kongreß von 1815. Dies allein wegen seines Standes, seiner standesgemäßen Ausbildung (Eton und Sandhurst) und seiner standesgemäßen Umgangsformen, die er vor allem bei Hetz- und anderen Jagden unter Beweis stellen konnte. Selbstverständlich immer in Gesellschaft seiner Standesgenossen. Und ebenso selbstverständlich heiratete er standesgemäß eine reiche Gutsbesitzertochter.

Lady Londonderry muss man allerdings auch nicht kennen. Sollte man aber vielleicht doch. Soll sie doch nicht nur ausnehmend hübsch, sondern auch etwas exzentrisch gewesen sein. Jedenfalls nach dem Geschmack ihrer Standesgenossen. So hat sie sich auf einer Japanreise eine Schlange auf ihr Bein tätowieren lassen. Und dieses Tatoo zeigte sich auch. Jedenfalls, nachdem die Röcke kürzer wurden. Diese Lady mit Tatoo unterhielt außerdem einen Klub, in dem die führenden Persönlichkeiten des Königreichs verkehrten. Hier wurden seltsame Gesellschaftsspiele veranstaltet, wobei sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen gegenseitig kniffen, kratzten und selbst bissen. Sehr komisch! Noch irritierender waren ihre Spitznamen. Winston Churchill war der "Hexenmeister", Neville Chamberlain "der Teufel" und Ramsay Macdonald "der Hirsch". Mit diesem "Hirschen", der im Nebenberuf noch Premierminister war, führte Lady Londonderry alias "Circe" nächtliche Kamingespräche. Und dies im Pyjama! Tolle Geschichten sind das, die man dem sonst eher etwas drögen Kershaw gar nicht zugetraut hätte.

Was aber sagen uns diese Mileustudien über die britische Aristokratie der Zwischenkriegszeit? Einmal, warum es Hitler so leicht gefallen ist, die Repräsentanten der politischen Elite Großbritanniens so lange und so erfolgreich zu täuschen. Die britische Appeasement-Politik erscheint in einem neuen Licht. Zum anderen, dass es eben auch so etwas wie einen 'britischen Sonderweg' gegeben hat. Das England der dreißiger Jahre war eine Demokratie - und blieb es. Doch eine Demokratie, in der Aristokraten wie Lord und Lady Londonderry den gesellschaftlichen und politischen Ton angeben konnten. Dies, obwohl sie von ihrem Bewusstsein und ihrem Habitus her eher ins ancien régime gehörten, das es im restlichen Europa so nicht mehr gab. Von solchen Milieustudien sollte es mehr geben. Sie erweitern unser Wissen über die Geschichte, die eben auch aus solchen kruden Stories besteht, wie sie Ian Kershaw hier erzählt hat. Einfach gut und lehrreich.


Titelbild

Ian Kershaw: Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005.
527 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3421058059

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