Schauplatz der Leere

Becketts Wüste

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Als 1969 die Nachricht um die Welt ging, Samuel Beckett erhalte den Nobel-Preis, war der Betroffene aus dieser Welt praktisch verschwunden: Beckett hielt sich vorsichtshalber in der tunesischen Wüste versteckt. Das mag man als Anekdote abtun, es passt aber durchaus zu den Szenerien, in denen die meisten Texte Becketts angesiedelt sind. Seine Wüste ist eine Leere, ist ein leerer Raum oder eine leere, raumlose Weite. Der Titelheld der Erzählung "Der Ausgestoßene" erklärt beispielsweise: "Ich hätte einen Meeres- oder Wüstenhorizont gewünscht." Wenn Meer und Wüste gleichgesetzt werden, so ist unschwer zu erkennen, worum es geht: um einen möglichst einförmigen, einen möglichst unstrukturierten Schauplatz. Stets aufs Neue befinden sich Becketts Figuren an solchen Schauplätzen oder sehnen sich danach.

Freilich wird die Gleichförmigkeit aufgehoben durch die immer wieder neuen Varianten, in denen sie uns gegenübertritt, und durch die immer wieder neuen Darstellungsmöglichkeiten, die Samuel Beckett den Schauplätzen der Leere abringt. Sehr genau nachvollziehen lässt sich das durch eine chronologische Lektüre der Kurzprosa Becketts, die zu Unrecht weniger bekannt ist als seine Dramen und Romane. In Becketts allererstem Prosatext "The Assumption" von 1929, der leider bis heute nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, umgibt den namenlosen Helden ein "Meer des Schweigens", und er sehnt sich danach, mit "den vogellosen wolkenlosen farblosen Himmeln" eins zu werden; im letzten Prosatext "Immer noch nicht mehr" von 1988 sind dem orientierungslosen Helden "alle Orte wie ein und derselbe." Durch zeitlose Zeiten und ortlose Orte mühen sich die Gestalten Becketts, und sie tun es meist auch auf weglosen Wegen. Alles ist Einöde.

Einöde herrscht bereits in den Erzählungen der 30er Jahre; oberflächlich geben sie sich zwar spritzig und aufgekratzt, doch darunter lauert eine schleichende Lethargie. Der Held dieser Erzählungen heißt Belacqua, so wie jener Lautenmacher aus Dantes "Göttlicher Komödie", der damit gestraft ist, eine Lebensspanne lang auf den Einlass ins Fegefeuer zu warten. Er erträgt dies mit Langmut, reglos hingehockt in seinen kleinen Winkel Welt. Becketts Belacqua hält sich am liebsten in geschlossenen Räumen auf; noch aus dem Krankenzimmer, in dem er sein Ende erwartet, sucht er die zudringliche Sonne zu verbannen. Die Sonne nämlich mit ihrem Auf und Ab signalisiert, dass Zeit vergeht, und bedroht somit die allumgreifende Starre.

Nach dem Krieg, in den späten 40er und frühen 50er Jahren, schreibt Beckett Texte, deren Helden aus ihrem geliebten Zimmer hinausgeworfen werden und sich nun in der Außenwelt zurechtfinden müssen. Sie irren durch anonyme Städte oder flüchten in ländliche Szenarien, die mit den Relikten der menschenleeren irischen Heimat Becketts ausstaffiert sind: weite Ödflächen, bewachsen mit Farnkraut, Heide und Ginster. Der Held der Erzählung "Das Ende" kommt in einer Hütte unter, deren Lage er so beschreibt: "Rund herum bot sich das vertraute Bild von Größe und Trostlosigkeit." Zur Eintönigkeit trägt das Geräusch des stetigen Windes bei, doch der Erzähler wünscht sich Struktur: "Was ich gewollt hätte, waren Hammerschläge, peng, peng, peng, Hammerschläge in der Wüste."

Es fällt nicht schwer zu erraten, wozu die Hammerschläge dienen sollen: In der absoluten Leere eines nur vom Horizont begrenzten Ortes und einer unbegrenzten Zeit lässt es sich nur aushalten, wenn es gelingt, die Unendlichkeit in endliche Teile zu zerlegen. Hier hat das Wiederholungsprinzip Becketts seinen Ursprung, das darauf abzielt, unermessliche Wartezeiten in messbare Wegstrecken zu überführen. Becketts Figuren führen Rituale aus, zählen ihre Schritte und berechnen Distanzen. "Einfache Rechenaufgaben" seien eine "Zuflucht", heißt es später in der Fabel "Gesellschaft"; eine Zuflucht aber ist ja eigentlich ein Ort, ein Raum, wo man sich geborgen und allein weiß.

Allein mit ihren Stimmen sind alle Gestalten Becketts, ganz gleich, ob sie sich nun noch schlurfend und kriechend durch öde Außenwelten schleppen oder schon ganz im "Elfenbeinverlies" ihres eigenen Schädels versunken sind. Wenn sie noch sehen können, heben sie zur Orientierung die Augen zum Himmel, "wo es keine Wege gibt, wo man frei herumlaufen kann, wie in einer Wüste". Und wenn sie schon blind sind oder geblendet vom gleißenden Licht, dann spüren sie immer noch den Erdboden, auf dem sie liegen, oder den Schlamm, durch den sie robben und den sie verschlucken, während sie vor sich hin brabbeln und plappern.

Nach dem Verlöschen der Schauplätze ersteht aus diesem unaufhörlichen Reden, aus den schwirrenden Stimmen im leeren Schädel ein neuer Raum, der wie eine Wüste im Innern ist. "Ein umschlossener Raum, fünf Fuß im Quadrat", so lautet eine Variante, eine andere ist der "Rundbau, ganz weiß im Weißen." Ganz langsam aber werden diese "vollkommenen Einöden" der Beckett'schen Arenen neu angefüllt, zunächst mit aschgrauen Trümmern und einem "Sandmeer" und einer "Steinöde", dann aber auch wieder mit menschlichen Gestalten. In dem Text "Um abermals zu enden" herrscht "lange Zeit Wüste, anfangs", "unter einem von seinen Aasgeiern verlassenen Himmel"; dann treten zwei Zwerge auf mit einer Bahre, mühselig ausschreitend "am Ende des lebenslangen Zu-Fuß-Seins".

Möglich sind diese Zwerge nur noch als Fata Morgana, als Projektion des Schädels, dessen entleertes Inneres zum einzigen, zum ausweglosen Ort der Beckett'schen Textwelten wird. In "Schlecht gesehen schlecht gesagt" begegnet uns dazu eine letzte Regung: "Das Auge, das auf eine Kleinigkeit in der Wüste starrt, füllt sich mit Tränen. Die Phantasie erblüht nach Schmerzenslust." Becketts leere Textwüsten haben vor dem Hintergrund dieser Formulierung eine doppelte, sich widersprechende Funktion: Sie wünschen in der Gleichförmigkeit der Szenarien alle "Kleinigkeiten", alle Einzelheiten zu tilgen und so dem starrenden Auge die Tränen zu ersparen; und sie schaffen dabei doch gleichzeitig wieder einen neuen Projektionsraum, der die "Schmerzenslust" des Bilderzeugens erneut in ihr Recht einsetzt. Die "sogesagte Leere", um die Becketts vorletzte Prosa "Aufs Schlimmste zu" kreist, ist eine "unverschlimmerbare Leere", aber sie ist immer noch ein Raum, der sich notfalls neu füllen lässt.

Becketts Wüste vergeht nicht. Selbst in dem allerletzten Beckett-Text überhaupt, dem Gedicht "Wie soll man sagen", regt sich noch etwas, unaussprechlich zwar, aber doch vorhanden "weitab da drüben ganz schwach was -". Aber was genau es ist, das die wüste Leere stört und belebt, bleibt ungesagt; vielleicht ist es doch nichts anderes als eben der Wunsch, die Leere möge keine vollkommene sein.

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist die leicht veränderte Fassung eines Beitrags aus Friedhelm Rathjens kürzlich erschienenem Buch "weder noch - Aufsätze zu Samuel Beckett". Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.