Keine böhmischen Dörfer

Ein Tagungsband zu Libuše Moníková

Von Karin WindtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin Windt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2005 war ein gutes Jahr für die Wiederentdeckung der Autorin Libuše Moníková. Die früh verstorbene tschechische Autorin, die ihre intelligenten Romane und Essays auf Deutsch verfasste, wäre am 30. August 2005 60 Jahre alt geworden. Passend dazu erschien ein lesenswerter Band mit zahlreichen germanistischen Beiträgen zu ihrem Werk und einem Gespräch mit FreundInnen und Wegbegleitenden der umstrittenen Autorin. Die Aufsätze entstammen einer internationalen Konferenz, die 2003 an der südböhmischen Universität Ceské Budejovice stattfand.

Patricia Broser und Dana Pfeiferová versammeln in dem Bemühen, die Bekanntheit Moníkovás und das Verständnis für ihre nicht leicht zugänglichen Texte auch im tschechischen Sprachraum zu fördern, unterschiedliche Beiträge in ihrem Tagungsband, von denen einige exemplarisch herausgegriffen und vorgestellt werden.

Gendermythen

Andrea Bartl untersucht unter dem Titel "Grenzgängerinnen. Androgynie in ausgewählten Werken Libuše Moníkovás" die wenngleich leitmotivisch in Moníkovás Texten vorhandene, so doch bislang unterrepräsentierte Thematik des Androgynen. Sie legt den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf den vorgestellten (platonischen) Dreischritt aus ursprünglicher Einheit, anschließendem Zerfall und der angestrebten erneuten Vereinigung zu "mannweiblicher" Ganzheit, der in Moníkovás Fall stets modifiziert werde. Hier existiere nach Einsamkeit nur eine flüchtige holistische Vereinigung, gefolgt von erneuter Vereinzelung. Am ehesten treffen Bartls Ausführungen die mythisch inszenierte Begegnung der beiden Hauptfiguren Prantl und Karla in "Treibeis", da dort die Verbindung von Männlichem und Weiblichem als ein den Berg hinabrollendes menschliches Zweierbündel in Szene gesetzt wird. Die Idee der verbundenen oder zerschnittenen Zweiheit auf einzelne Figuren angelegt, so etwa auf Jana in der Erzählung "Eine Schädigung", führt jedoch zu kategorialen Unschärfen. Die Erzählstimme "sieht" zu Beginn des Textes ein Mädchen, Janas subjektive Selbstwahrnehmung ist zunächst nicht geschlechtsspezifisch markiert, also "ungegendert". Erst mit der Perspektive eines Polizisten, der sie erst für einen Jungen hält, und sie dann später vergewaltigt, taucht eine männliche Zuschreibung auf. Diese unterschiedlichen Blickperspektiven des Erzähltextes werden durch Bartls vereinheitlichende Perspektive unterschlagen, wenn kurzerhand eine "ursprüngliche Androgynie" Janas postuliert wird. Ein weiteres Manko des Beitrags ist die sehr unscharfe Trennung zwischen den Begriffen Androgynie, Hermaphrodismus und Transsexualität, die als "mannweiblich" quasi synonym verwendet werden, jedoch sehr unterschiedliche Figurationen von Zweigeschlechtlichkeit darstellen.

Brana Krivánová liefert mit "'Tetom und Tuba': ein feministisches Festmahl" eine Analyse von einem der bisher wenig besprochenen Theatertexte von Moníková und legt en passant den Meinungsstreit, ob Moníkovás Texte nun feministisch seien oder nicht, erfrischend unbekümmert bei. Krivánová zeigt das intertextuelle und dekonstruktive Verfahren auf, mit dem die Autorin kulturtheoretische und psychoanalytische Aussagen Sigmund Freuds nicht nur aus "Totem und Tabu" zitiert und aneinanderfügt, bis sich die "Psychoanalyse selbst widerlegt". Krivánová zeichnet darüber hinaus überzeugend nach, wie die von ihr als "feministisch" bezeichnete Komödie den durch Freud verkörperten patriarchalen Kanon der "westlichen Wissenschaften" parodiere und demontiere.

Subjektkonstruktionen

Drei Themenbereiche in drei Texten Moníkovás, in denen sich selbstschöpfende und fremdschöpfende Prozesse von Subjektwerdung der fiktionalen Figuren vollziehen, untersucht Bernadette Malinowski in ihrem Beitrag "Zwischen Autopoiesis und Heteropoiesis. Formen narrativer Subjekt- und Identitätskonstituierung im Werk von Libuše Moníková". Eines der Themen sei der Körper im Schmerz. Schmerz als Erzeuger und vor allem Auflöser von Subjektivität erzeuge eine variable Grenzlinie, an der entlang die "Kämpfe zwischen kollektiver Macht und individueller Ohnmacht" inszeniert werden. Der Ausgangspunkt der Protagonistinnen bestehe jeweils in "einer Art identitätsloser Subjektivität", die durch körperliche Erfahrungen und Reflexionen in eine jeweils nur vorläufige individuelle Subjektivität überführt werde. Diese bleibe vorläufig, da sie sich immer wieder erneut im Zeichenprozess erst generieren müsse. Dass narrative Identität bei Moníková stets ein Annäherungswert bleibt, ist eine wichtige Beobachtung, die zentral Moníkovás Textpoetik trifft.

Böhmische Kultur-/Geschichte im literarisierten Blick

Brigid Haines, die zusammen mit Lyn Marven 2005 ebenfalls ein Buch zum Erzählwerk der Autorin herausgab (Libuše Moníková in Memoriam, Rodopi), beschäftigt sich mit dem vielzitierten Topos eines Böhmens am Meer, jenem Shakespeare'schen geografischen Fehler im "Wintermärchen", der durch Bachmanns Gedicht "Böhmen liegt am Meer" berühmt wurde. Unter dem gleichen Titel geht Haines der zur literarisch-politischen Metapher gewordenen Wendung in deutschen Texten der Ex-DDR-Autoren Fühmann und Braun, bei Bachmann, und in Moníkovás Essays nach. Alle LiteratInnen spielten mit dem utopisch-dystopischen Potential des Begriffs und nutzten ihn zur indirekten Reflexion über politische Probleme. Bei Moníková rücke die historische Realität - die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings durch die Mächte des Warschauer Pakts - das am Meer liegend imaginierte Böhmen weg "an den Rand der Steppe". Es seien die Dichter, so referiert Haines Moníková, die mit ihren hartnäckigen Utopien wider die Realität an Möglichem festhielten.

Sibylle Cramer, die Moníkovás Werk einmal als "humoristisch gewendete Ästhetik des Widerstands" charakterisierte, untersucht in ihrem Beitrag "Die Majestät auf der Flucht in die Literatur", wie Moníková tschechische Geschichte als Literatur verarbeitet hat. In analytischen Scharfsinn mit elegantem Stil verbindender Schreibweise geht Cramer der Frage in den Kategorien eines Ereignis-Struktur-Gefüges (Lotman) nach und bestimmt Moníkovás Schreibweise als strukturalistisch informiert. Geschichtsschreibung sei demzufolge nicht mehr als Konstruktion, sondern als strukturanalytische Rekonstruktion zu verstehen. Vorstellungen von Geschichtsschreibung jenseits linearer Historiografie, die Cramer aufzeigt, erleichtern das Verständnis dieses Themenbereiches in Moníkovás Romanen.

Das brüchige Verhältnis zum Eigenen: Tschechische Literaturpolitik

In "Der Schriftsteller und das Gewissen des Volkes" referiert Dana Pfeiferová über Reales und Imaginiertes des böhmischen (Kultur-)Raums in Moníkovás Erzähltexten. Ihre Ausführungen wenden sich gegen diejenigen Stimmen der tschechisch-germanistischen Rezeption, die Moníkovás Texte als "für ausländisches Publikum" geschrieben und als repetitive Realiensammlung von den Tschechen hinlänglich bekannten Fakten ablehnen. Pfeiferová verweist auf die leichten ironischen Verschiebungen in der Nacherzählung böhmischer Geschichte durch Moníková, die den Wissensvorsprung tschechischer LeserInnen nutzvoll auf die feinen Differenzen zur realen - sprich überlieferten -Historie lenken können. Sie konturiert Moníkovás Poetik der ironischen Verfremdung und Infragestellung von scheinbar Bekanntem der Kultur und Geschichte.

Pfeiferová kontextualisiert Moníkovás schriftstellerische Ethik, indem sie die vor dem Hintergrund der "nationalen Wiedergeburt" im 19. Jahrhundert entstandene Aufgabe des tschechischen Schriftstellers als "Gewissen des Volkes" nachzeichnet, welcher die Autorin sich verpflichtet fühlte. An dieser die Bedeutung des Künstlers stärkenden wie seine Freiheit auch einschränkenden Tradition hat Moníková sich wiederholt gerieben, wie ihre Figuren zeigen, die leitmotivisch am drohenden (Selbst-)Verlust ihrer künstlerischen und individuellen Stimme kranken: Francine Pallas' Fantasie in "Pavane für eine verstorbene Infantin", eine böhmische Herrscherin zu sein, gehe nach vollzogenen schweren Amtspflichten in Bilder von Zerfall und Vergängnis über. Erst indem Pallas zum Stift greift und Kafkas "Schloss"-Roman umschreibt, nur ihren eigenen Ideen verpflichtet, finde sie ihr Gleichgewicht wieder. Anhand der detaillierten Analyse einer Textstelle aus "Die Fassade" zeigt Pfeiferová auf, wie Moníková, die zwar gegen die Heroisierung der Vertreter/-innen der tschechischen "nationalen Wiedergeburt" anschreibt, dennoch in deren Vorstellungswelt, die tschechische Sprache und vor allem Kultur konkurrenzfähig zur europäischen Kunst zu machen, gefangen bleibt.

Renata Cornejo erschließt in ihrem Aufsatz "Ich schreibe eigentlich tschechisch in deutscher Sprache" die zögerlich angelaufene tschechische Rezeption von Moníkovás Werk, die überwiegend erst nach ihrem Tod 1998 einsetzte. Cornejo begründet die schleppende Rezeption mit der fehlenden Übersetzung von Moníková-Texten (die die Autorin teilweise selbst verwehrte, weil sie sehr hohe Ansprüche an die Übertragungen stellte), dem für die Moníková-Rezeption ungeeigneten positivistischen Ansatz, der die tschechische Literaturwissenschaft noch beherrsche und dazu führte, ihre Texte - mit Ausnahme des Romans "Treibeis", der einen durchwegs guten Anklang in Tschechien fand - wegen der redundanten "Realien" abzulehnen. Einen weiteren Grund sieht Cornejo in der Ablehnung durch die tschechische Germanistik, der gegenüber Moníková mehrfach ihr äußerst kritisches Verhältnis artikuliert hatte, da sie diese als noch sehr tief von der "Normalisierungszeit" nach Beendigung des "Prager Frühlings" betroffen ansah.

Der Band schließt mit dem dokumentierten Podiumsgespräch von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, das "das internationale Publikum hinter die Fassade der böhmischen Dörfer" (Pfeiferová) führen soll, und das Bild der Autorin und ihres Herkunftslandes in den Umbrüchen der 60er und 70er Jahre erhellt.

Dieser Tagungsband liefert wichtige Ergebnisse und überzeugende neue Ansatzpunkte zur Moníková-Werk-Forschung.


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Patricia Broser / Dana Pfeiferová (Hg.): Hinter der Fassade: Libuse Moníková. Beiträge der Internationalen germanistischen Tagung Ceské Budejovice - Budweis 2003.
Edition Praesens, Wien 2004.
313 Seiten, 40,90 EUR.
ISBN-10: 3706902591

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