Auserwählte auf Schlingerkurs

Nachgelesen: "Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität" von Dave Eggers

Von Marion MalinowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Malinowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Still ist es geworden um die Popliteraten. Joachim Lottmann war schon immer zu alt, um dazuzugehören, versucht es aber unverdrossen weiter in Berlin, Lebert ist zu jung, der darf noch üben, und manch einer bekommt ein Zeitschriftenprojekt finanziert, das eigentlich niemanden interessiert. Der andere Benjamin erholt sich in der Schweiz und liest ab und zu noch in einem Kinosaal. Der Medientross ist weiter gezogen, auf der Suche nach der nächsten "Generation", zurück bleiben Bücher. Papier bedruckt mit Alltagserlebnissen vornehmlich männlicher "Ichs" in teils schnodderiger Umgangssprache. Pop-Schublade zu, bleibt da was?

Ich mache den Test und lese: "Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität". Kann man sich diesem Titel entziehen? Wohl kaum. Dazu das altmodisch-kitschige Titelbild. Auch darüber wurde vor fünf Jahren, als das Buch auf Deutsch herauskam, viel geschrieben. Hinter einem roten Samtvorhang die Ansicht eines romantischen Sonnenuntergangs. Und damit nicht genug, der Untertitel behauptet: "Eine wahre Geschichte".

Dave Eggers, ein Vermarktungskünstler in eigener Sache, erzählt darin, wie seine Geschwister und er nach dem Krebstod der Eltern innerhalb weniger Wochen ihr Leben allein meistern müssen. Plötzlich verantwortlich für den 8-jährigen Bruder und allein gelassen mit seiner Wut und dem Schmerz, der noch in jeder ironischen Sentenz durchschimmert, wird die Übertreibung zum einzig möglichen Stilmittel. "Der Autor möchte auch seinen Hang zur Übertreibung bekennen. Und seinen Hang zu flunkern, um sich selbst in ein besseres oder schlechteres Licht zu stellen, je nachdem was ihm jeweils gerade besser zustatten kommt." Eggers muss übertreiben, um Distanz zu seinen Emotionen zu gewinnen. "Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben, hatte ich zu ihm gesagt, nur die Übertreibung macht anschaulich", steht schon bei Thomas Bernhard zu lesen. Gerungen wird bei Eggers vor allem um den Verlust der Mutter, deren Sterben auf den ersten 50 Seiten des Buches detailliert beschrieben wird: "Ihr solltet einmal die Stelle sehen, wo ihr Magen war. Wie ein Kürbis sieht sie aus. Rund und dick. Es ist merkwürdig - da haben sie ihr den Magen und auch, wenn ich mich recht erinnere, einige umliegende Partien entfernt, und doch sieht sie aus, als sei sie schwanger, selbst nachdem sie so viel drumherum weggeschnitten haben." Da ist die Rede von grünen und schwarzen Flüssigkeiten in Plastikschalen oder vom Nasenbluten, das sich nicht stoppen lässt. Solche schwer erträglichen Schilderungen sind unterbrochen von Selbstbeobachtungen, lakonischen Kommentaren und Gedankensplittern. Dieser eindringliche Einstieg macht deutlich: Es ist bitterernst.

Eine durchgehende Handlung hat das Buch nicht. Genres werden gemischt und über 400 Seiten lang wird aus dem Leben eines Twenty-Something erzählt. Das Buch zu kritisieren fällt schwer, denn Eggers nimmt mögliche Einwände immer schon vorweg. Vorangestellt sind "Richtlinien und Empfehlungen zur Steigerung des Lesevergnügens" sowie ein erläuterndes Vorwort mit Hinweisen zum realen Gehalt der Geschichte und Tipps, was und wie weit man lesen sollte. Ironische Brechungen, Figuren, die mit dem Erzähler diskutieren, schaffen die nötige Distanz, um so "herzzerreißend" komisch mit großer Intensität zu erzählen.

In einem ausführlichen Anhang - der in Nachauflagen immer wieder ergänzt und verändert wurde und auch mal fehlt, weil er dem Autor dann doch unnötig erschien -, in Fußnoten und Kommentaren benennt Eggers selbst, was Lesern missfallen könnte, korrigiert, entschuldigt sich. "Während der Autor, indem er so selbstbezogen ist, sich selbst hinterfragt, weiß er doch andererseits um die selbsthinterfragende Selbstbezogenheit dieses Buches." Kreisend um das eigene Ich, zugleich verantwortlich für den kleinen Bruder, ziehen die Geschwister von Chicago nach San Francisco, immer in der Sorge, die Kontrolle zu verlieren und der Verantwortung nicht gerecht werden zu können. Das könnte banal sein, aber vor dem Hintergrund des Todes verliert der Roman nie seine "herzzerreißende" Wirkung. Bei aller Ironie verzichtet er auf jeden Zynismus. Die Familienkatastrophe macht die beiden zu "Auserwählten", die noch mehr vom Leben erwarten: "Man schuldet uns etwas, verdammt noch mal", und so schlittern sie auf Socken durchs Haus, schlingern durch den Tag, immer in Sorge vor dem Jugendamt, ziehen um, werfen Frisbee im Park und am Strand, hoch und weit. Alltag, aber über all dem schweben Wut und selbstreflexive Unsicherheit, in Komik und Tragik verpackt.

Am Ende steht wieder die Erinnerung an das Sterben der Mutter, deren Asche sie dann in einen See verstreut haben. Vielleicht ist Dave Eggers einer, der durch seinen Schlingerkurs erfolgreich an der Oberfläche kratzt und den geschlossenen Schubladen der Popliteratur wirklich entkommt.


Titelbild

Dave Eggers: Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität. Eine wahre Geschichte.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Leonie von Reppert-Bismarck und Thomas Rütten.
Droemersche Verlagsanstalt, München 2003.
560 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3426622815

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch