Das Selbstbewusstsein unserer Lebensform

Pirmin Stekeler-Weithofers überzeugende Rekonstruktion der Hegel'schen Philosophie "als Formanalyse von Wissen und Autonomie"

Von Jan MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein Autor der philosophischen Tradition wurde so häufig für vermeintliche überzogene All-Erklärungsansprüche gescholten, kaum einer so häufig zum "alten Eisen" der Geistesgeschichte gestellt - und kaum ein Autor wurde, folgt man dem Leipziger Philosophen Pirmin Stekeler-Weithofer, so gründlich und energisch miss- und falschverstanden wie Hegel. Gegen Etikettierungen als Bewusstseinsphilosoph und "totalitären" Staatsvergötterer unternimmt es Stekeler-Weithofer in seinem jüngsten Buch, Hegels Philosophie "als sinnkritische Begriffsanalyse avant la lettre nachzuzeichnen. Philosophie, so das Programm, sei die Reflexion auf die Formen unseres Wissens und unserer Praxis; ihr vorrangiges Mittel ist die sprachkritische Analyse derjenigen "höherstufigen" Redeformen, in denen wir diese Formen artikulieren, bilden und thematisieren - und dessen, was wir dabei immer schon wissen und können.

Mit dieser Ausrichtung ist Stekeler-Weithofer seit seiner großen Arbeit über die "Wissenschaft der Logik" als "kritische Theorie der Bedeutung" ("Hegels Analytische Philosophie", 1992) ein Exponent der "Leipziger Schule" der Hegelinterpretation. Der vorliegende Band, der zu guten drei Vierteln bisweilen erheblich überarbeitete Aufsatzpublikationen der letzten zehn Jahre versammelt, will als Komplement zur Logikinterpretation gelesen werden. Programmatisch werden hier die dort entwickelten Einsichten rekapituliert: Die Wörter "Sein", "Wesen", "Geist" usw. seien in Hegels Kategorialanalyse nicht referentiell, sondern als anzeigende "Titelwörter" für Formen der sprachlichen Artikulation wirklicher Praxis aufzufassen. Sie bleiben damit notwendig auf diese Praxisformen zurückbezogen. Der Einsicht in diese notwendige Beschränktheit bedingten, endlichen Wissens entspreche bei Hegel die Kategorie des "absoluten Wissens": Sie umgreife fingierte Reden sub specie aeterni, mit denen die Artikulationen endlichen Wissens idealisiert und damit beurteilbar werden.

Gleichsam zwischen diesen redelogischen Polen spannt Stekeler-Weithofer plausibel das Hegel'sche System als "topische" Reflexion über die verschiedenen Bereiche unseres Wissens und ihrer Rede- und Praxisformen auf. Das Problem der Teleologie wird so handlungstheoretisch, die Geschichtsphilosophie als rekonstruktive Explikation der Entwicklung von Ideen und Praxisformen "vom Ende der Geschichte her" verständlich. "Nur von hier und heute aus können wir unseren Standort erkennen, aber wie in der Geographie nur dadurch, daß wir den eigenen Ort in der Welt topisch situieren. Das ist radikal gedachte Immanenzphilosophie, das Gegenteil transzendenter Metaphysik", in der dann sogar die Naturphilosophie ihren Ort in einer selbstaufklärerischen Enzyklopädie "des Menschen" findet. Im selben Sinn entschärft die Fundierung ethischer Reflexion in der je schon ("empraktisch") erlernten "Sittlichkeit" die berüchtigte Bestimmung der Freiheit als "Einsicht in Notwendigkeit", indem sie mit der vernünftigen Reflexion wirklicher Handlungsmöglichkeiten allererst die Kritik ihrer Beschränkungen erlaubt.

Ein Glanzstück darf der Leser in der Rekonstruktion der kategorialen Rede vom "Wirklichen" erwarten. Sie sei, so argumentiert Stekeler-Weithofer, als "kritische Kategorie" zu verstehen: Die Nominalisierung zeige solche höherstufigen Reden an, in denen wir uns darüber verständigen, was genau in unseren Lebensvollzügen zu welchen Zwecken als "wirklich" gelten dürfe. Das "Wirkliche" ist also "immer schon etwas theoretisch Geformtes"; was uns unmittelbar als sinnlich Gewisses erscheint, ist Produkt unseres Urteilens über es als Wirkliches. Es ist kein Zufall, dass diese Erörterungen mit der Ausdeutung des wohl notorischsten Hegel-Satzes, demgemäß "das Vernünftige wirklich, das Wirkliche vernünftig" sei, im Zentrum des Bands stehen. Sie motivieren sowohl den Einwand gegen die in der Tradition angelsächsisch-analytischen Philosophierens geläufige formalistisch verkürzte Auffassung von Logik als System formalanalytischer Schlussschemata wie gegen die Sprachvergessenheit des traditionellen Idealismus - "recht verstandene Transzendentalphilosophie ist nämlich nicht als subjektive Reflexion, sondern als objektive Metabetrachtung der realen Formen von Sprache und Praxis, des Wissens und der Wissenschaft zu betreiben".

Droht also abermals eine Proklamation des "Endes der Philosophie"? - Das nun nicht. Auch Stekeler-Weithofers Philosophieren mit Hegel ist "philosophia perennis": Unabschließbar, aber auch - und das ist kein Unglück - unfertig. Das liegt vor allem am programmatischen Charakter der versammelten Kapitel, deren unstrittiges Verdienst allemal eine sprachphilosophisch und sinnkritisch selbstbewusste Neuorientierung der Hegellektüre ist. Umgekehrt sieht sich der Leser aber gerade deshalb immer wieder an "Titelwörter" eigener topischer Reflexionen verwiesen, wo begriffliche Klärung angezeigt gewesen wäre. Sie bleibt etwa hinsichtlich der Rede von "generischen" Begriffen ein Desiderat. Gleiches gilt von der Bestimmung des "Absoluten" als Anzeige einer quasi-kantischen Reflexionsperspektive "aus der Sicht Gottes": Ist damit eine idealisierende Formbestimmung idealen Wissens angedeutet, oder umfasst sie - womöglich die rekonstruktive Absicht konterkarierend - zugleich auch teleologische Dimensionen "materialen" Wissens? Drängend würden solche Fragen etwa in einer genauen Ausdeutung des Anerkennungsverhältnisses, die über die Feststellung des "allegorischen" Charakters des Herr-Knecht-Konflikts hinausginge.

Dass der Band mithin eher ein Zwischenbericht denn die Summe einer systematisch angemessenen Aneignung Hegels ist, ist eher ein Zeichen der Qualität solchen Philosophierens mit Hegel. Wie alles Philosophieren sind Stekeler-Weithofers Ausführungen auf dieselbe Weise zu lesen und zu bedenken, wie sie selbst den Hegel'schen Vorschlägen begegnen. Dass der in "analytischer" und "kontinentaler" Philosophie gleichermaßen beheimatete Autor sich im behutsamen Duktus seiner Annäherung als echter Hegel-Sympathisant zeigt, erleichtert die Aufgabe.

Dem Band und seiner Wirkung sind im selben Sinne geneigte, sympathisierende Leser zu wünschen: Denn es wäre in der Tat schon ein "philosophischer Fortschritt", "wenn man zu unterscheiden verstünde, für welche Zwecke diese oder jene Ausdifferenzierung einer Grundform des menschlichen Lebens, Redens, Urteilens und Tuns sinnvoll und nötig, wann sie überflüssig und wann sie geradezu hinderlich ist".


Titelbild

Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewusstseins. Hegels System der Analyse von Wissen und Autonomie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
448 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518293494

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