Mystischer Realismus

Daniele Benati schickt Literaturstipendiaten in ein nicht-existentes Amerika

Von Gustav MechlenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Mechlenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine starke Behauptung des radikalen Konstruktivismus war die, dass es Amerika gar nicht gebe. Nach dieser philosophischen Schule hat Kolumbus Amerika nicht entdeckt. Weil er bis zu seinem Tod der Meinung war, er sei nach Indien gefahren, hat er also auch Indien entdeckt. Wirklichkeit wird nach Ansicht des radikalen Konstruktivismus permanent erzeugt von den Personen, die am Erkenntnisprozess beteiligt sind. Die Wirklichkeit - ein subjektives Konstrukt. Das gilt für Behörden wie für Literaten.

Wenn die italienische Kulturbürokratie ihre Stipendiaten nach dem Alphabet nach Amerika schickt, treffen Personen mit den gleichen Initialen am Ort ihrer vorübergehenden Wirkungsstätte zusammen. Bei Daniele Benati sind das lauter Männer, deren Namen mit P beginnen: Perlasca, Piciorla, Paio, Picaglia... Insgesamt elf. Nein neun. Oder handelt es sich sogar nur um eine einzige Person? Zahlreiche Motive der Weltliteratur sind in den seltsamen kleinen Roman des 1953 geborenen italienischen Autors verwoben. Widergänger, Irrgärten und mechanische Mädchen als Teile historischer Literatur, sowie Paranoia, Kommunikationsstörung und Pseudodandyismus als moderne Literaturthemen. Benati, der James Joyce und Flann O'Brian ins Italienische übersetzt hat, hält nichts vom autoritären Autor und lässt den Stimmen seiner obskuren Figuren den Vortritt.

Die Stadt, die im Roman "Amerika gibt es nicht" beschrieben wird, besteht aus nichts anderem als einer Straße mit dem Universitätsgebäude, das gleichzeitig Schnellrestaurant und Hotel ist. Hinein gelangt man durch den Abort des im Erdgeschoss gelegenen Mc Donald's. Das Ganze ist ein Labyrinth für Monomanen mit Staatsstipendium. Ein gepflegter Irrgarten für Leser, denen es gelingt, die intertextuellen Bezüge zu dechiffrieren, ein komischer Wust von Bedeutsamkeiten für den, der sich mit der Höllenordnung Dantes nicht bereits näher beschäftigte. Der Wust ist interessanter als die spitzfindige und lächerlich elitäre Literaturgeschichte. Der Wust ist auch in den Köpfen der Stipendiaten zu Hause. Sie sollen hier Literaturgeschichte schreiben zu Nutz und Frommen der Elite, aber von konzentriertem Arbeiten ist keine Rede. Die Tücken des Alltags in der Mystic Avenue fordern die ganze Aufmerksamkeit. Bücher fliegen aus den Fenstern, Stimmen rufen unbekannte Namen, Frauen stellen sich rätselhaft dämlich an, fordern Nachhilfe und bringen die Italiener in Hitze.

Die Stipendiaten sind wohl präpariert mit existenzieller Attitüde, können damit aber in diesem von Benati geschilderten Amerika nicht landen. Ist das realistisch? Die Reduzierung eines Staates auf eine Mc Donald's-Filiale, ein Hotel und eine Universität, in der zahllose Irre herumstreunen, mag für Amerikaskeptiker durchaus mit ihren Beobachtungen übereinstimmen. Dennoch ist dies kein antiamerikanischer Roman. Es geht um ein Utopia, ein ideales unsichtbares Fantasieland in den Köpfen derer, die mit Einbildungskraft begabt sind. Sozusagen um das Indien, was später Amerika genannt wurde. Und in das anfangs nur wenige Menschen reisten und aus dem sagenhafte Gerüchte in die alte Welt drangen. Die Gerüchte bestehen heute noch: Sie heißen nur nicht mehr Paradiesvogel, Gold und wilde Menschen, sondern Mc Donald's und Hotel. Und obwohl man das auch in jeder europäischen Kleinstadt angucken könnte, wuchern die Mythen um diese Vokabeln ungebremst.

Literaturstipendiaten sind dazu angehalten, sich mit der Realität auseinander zu setzen, um daraus Bücher zu machen, die bitte recht "welthaltig" sind. Konsequenterweise sind Benatis Stipendiaten der Welthaltigkeit hart auf den Fersen, und sie besteht aus: Irrsinn, Telekommunikationsproblemen, Liebeskummer und fliegenden Blättern mit Behauptungen darauf, sowie einer regelmäßigen Rast in der Mc Donald's-Filiale. Wer behauptet, man könnte das zu einem geordneten Stück Literatur machen, ist ein Ästhet, aber kein Realist. Benati dagegen ist Realist, und man liest einen fantastischen Wust.


Titelbild

Daniele Benati: Amerika gibt es nicht. Roman.
Tisch 7 Verlagsgesellschaft, Köln 2005.
291 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3938476052

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