Halluzinative Textkompressen querbeet

Klaus Theweleits neue Aufsatzsammlung "friendly fire" durchkreuzt die kulturwissenschaftliche Deadline

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es kann Entwarnung gegeben werden. Klaus Theweleits neues Buch ist wieder dick. Still Live Talking im Hause Stroemfeld also, seit dem Bestseller "Männerphantasien" (1977/78) immer noch der gute, alte Hausverlag des bekannten Freiburger Kulturtheoretikers. Nach Theweleits letzten beiden dort herausgekommenen, vergleichsweise knappen Studien "Der Knall" (2002, 280 Seiten) und Deutschlandfilme (2003, 296 Seiten) war noch ein lockeres autobiografisches Fußballbändchen mit dem Titel "Tor zur Welt" erschienen, allerdings bei Kiepenheuer & Witsch (2004, 235 Seiten). Und manch einer hatte sich nun doch schon gefragt, was eigentlich mit Theweleits Markenzeichen los sei - jenen breit erzählenden, mehrbändigen Geschichts-, Psychoanalyse- und Literaturuntersuchungen nämlich, die gut und gerne auch schon einmal die Tausendseitenmarke überschritten und mit Bildern und Fotos gespickt waren, die im genannten Fußballbuch plötzlich fehlten.

Sollte jetzt vielleicht etwa schon vor der Zeit Schluss sein mit diesen stets großzügig ausgestatteten, abbildungsgesättigten, geradezu unausstudierbaren Sammlerobjekten wie dem "Buch der Könige" (seit 1988 zwei erschienene Bände, zwei weitere sind nach wie vor bei Stroemfeld angekündigt) oder dem letzten (auch verlegerisch mal wieder) ziemlich gewagten Riesenprojekt, dem "Pocahontas-Komplex" (seit 1999 ebenfalls zwei erschienene Bände, während zwei weitere nach wie vor annonciert bleiben)?

Es besteht kein Grund zur Sorge: Wie zur Beruhigung werden wir jedenfalls jetzt, quasi interimsmäßig, erst einmal eingedeckt mit "friendly fire". " - 'schöner Titel!' - 'Oh, ja'", lauten die ersten Worte des immerhin über vierhundertseitigen neuen Theweleit-Bands bei Stroemfeld. Dieses "friendly fire" ist, erläutert das Vorwort, ein "ironische[r]", amerikanisch-britischer Begriff für den versehentlichen Selbstbeschuss eigener militärischer Truppen.

Ist das Zynismus? Zumindest wirkt es auch ein bisschen selbstironisch, wenn der Untertitel von Theweleits neuem Buch "deadline-TEXTE" lautet. Denn es sind nicht nur viele für die Presse entstandene Terminarbeiten in dieser Artikel-, Interview- und Essaysammlung zu finden, sondern es war wohl wirklich höchste Zeit für so etwas wie einen Theweleit-'Pausenfüller': Seine interdisziplinäre Berühmtheit hat den Autor unter Zugzwang gebracht, auch seine allgemeine Buchpublikations-'Deadline' zu wahren.

Doch ist es jetzt das: Bloß ein 'Pausenfüller', eine Verlegenheitspublikation alter, bunt zusammengewürfelter Texte? Der aufwändige Versuch, ungeduldige Leser einstweilen hinzuhalten, bis wieder ein richtig großer Klopper kommt? Keineswegs. Es geht da ja wirklich um allerhand in diesem Buch, um "Musiken" (featuring u. a.: das "Art Ensemble of Chicago"), "Literaturen" (selbstverständlich mal wieder über Gottfried Benn, aber auch Mörike), "Kameras" (zu Georges Mélies, Jean-Luc Godard et al.), "Stifte und Pinsel" (verstörend und zugleich gerecht: die kritische Einordnung von Blalla W. Hallmanns wahnsinnigen 'Hitlerbildern'), "Spirituelles" (womit im WM-Jahr 2006 natürlich nicht etwa Esoterik, sondern Fußball gemeint ist!), selbstverständlich ausführlich um "Politics" (hier zum Beispiel sehr empfehlenswert: der antisemitismuskritische Vortrag über die Geschichte der "Protokolle der Weisen von Zion") und - last but not least - auch noch um "Selbstreflexe" des Theweleit'schen Schreibens.

Das alles ergibt dann doch schon eine sehr ordentliche Portion geradezu halluzinativer Textkompressen querbeet. Und damit nicht genug: Die unzähligen, fast auf jeder Seite zu findenden vielfarbigen Abbildungen übertreffen die Qualität derjenigen der letzten Stroemfeld-Veröffentlichungen Theweleits, in denen manche Filmstils doch erstaunlich diffus abgedruckt waren, um Längen.

Kurz: Es ist mal wieder ist ein sehr liebevoll gemachter Band geworden. "Die Zuständigkeit für verbliebene Fehler bzw. Unsinn (im Normalfall jedes ordentlichen Buchs so um 5%), liegt bei mir", versichert der Autor in seiner Danksagung provisorisch. Und auch hier ist das eher Understatement. Zumindest fiel dem Rezensenten bei der eingehenden Komplettlektüre des Bands tatsächlich nur ein einziger lächerlicher Tippfehler auf. Sowas hat heute wirklich Seltenheitswert.

Nicht nur das gewissenhafte Lektorat, ohne das ein so luxuriöses Buch einfach nicht zu haben ist, ist ein Argument für das verdiente Lob dieser Publikation. Denn kaum jemand wird die vorher teils an sehr verstreuten Orten publizierten Texte alle bereits kennen. Und selbst wenn - allein schon, sie nochmal in dieser systematisch geordneten Form präsentiert zu bekommen, macht den Kauf des Bands zu einem schlichten Muss. Zumal Theweleits Vielseitigkeit selten so überwältigend als "Best-of-Album" zusammengefasst worden ist wie hier. Um genau zu sein: noch nie.

Alle seine kardinalen Interessengebiete werden nämlich wieder einmal angerissen und vielschichtig erläutert, nicht zuletzt in den abgedruckten, ausführlichen Artikeln, Interviews und Gesprächen u. a. aus der "taz" (über die Folterdebatte zu den Vorfällen in Abu Ghraib) und dem aus der "konkret" (über die Niedertracht des aktuellen deutschen Films à la "Der Untergang").

In Sachen 'Folterdebatte' ist Theweleit, nicht zuletzt nach seinem "Deutschlandfilme"-Buch, in dem es anhand von Pier Paolo Pasolinis Filmklassiker "Saló oder die 120 Tage von Sodom" ausführlich um das Thema (filmischer) Tortur-Bilder ging, ein ausgewiesener Fachmann. Voraussetzung für die demokratische Einforderung einer strikten Kontrolle jeder Verhörsituation in Gefängnissen besatzter Länder sei eine wache Bevölkerung, die wisse, wie leicht auch die eigenen Truppen oder Polizisten ihrer 'zivilisierten Staaten' in gewissen Situationen zu Folterern würden, gibt Theweleit in "friendly fire" zu bedenken. Genau deswegen empört er sich jedoch auch so über die haarsträubenden Kommentare, die in der deutschen Presse zu lesen waren, nachdem die ersten Folter-Bilder aus Abu Ghraib bekannt wurden: "Man kann sich dafür interessieren, warum diese Typen so sind, oder sich nicht dafür interessieren", räumt er ein, um dann einzuwenden: "Aber so tun, als hätte man dergleichen noch nie gehört, kann man nicht. Wer vorgibt, einen Generalsbericht, eine Rotkreuz-Expertise, die Videos oder Fotos aus Abu Ghraib zu brauchen, um all dies zu kennen, ist ein Lügner oder Trottel".

Auch Bernd Eichingers populärer Hitler-Film mit Bruno Ganz in der Hauptrolle entkommt nicht diesem unerbittlichen Blick auf die aktuelle Verfasstheit des deutschen Medienpublikums. Sei doch auch Eichingers Machwerk nach den Worten des "Shoah"-Regisseurs Claude Lanzmann nichts als die "Transponierung der Auseinandersetzung mit NS, Krieg und Shoah in den Bereich fälschender Unterhaltung", wie Theweleit anführt. Um dann selbst nochmals deutlicher zu werden, Produzenten wie Eichinger oder auch Hitler-Apologeten wie Joachim Fest hätten immerhin begriffen, dass es die Sucht des Publikums sei, "Geld für Schrott auszugeben": "Die Käufer wissen genau, was 'Bild' oder Eichinger/Fest anbieten, kann nur Scheiße sein. Es ist der alte deutsche Weg, die eigene Freiheit unter Beweis zu stellen, nämlich durch Anti-Intellektualismus. Die Freude am Beglotzen von Hitler/Bruno Ganz auf der Leinwand besteht in der mitgelieferten Bestätigung, als Zuschauer ein unwissendes Arschloch bleiben zu dürfen". Wie schön.

Man sieht: Von den "Männerphantasien" bis hin zum "Pocahontaskomplex" ist hier thematisch alles in fast allen nochmals nachzulesenden Texten wieder präsent, was diesen unter Literaturwissenschaftlern nicht unumstrittenen Autor seit den 70er Jahren so inspirierend und unkonventionell umtrieb.

Was das überhaupt für Bücher seien, die er da seither publiziere, fragt sich Theweleit diesmal dann noch gleich selbst in seiner im hinteren Teil des Bands zu findenden Dankesrede zur Verleihung des "Johann-Heinrich-Merck"-Preises für "Essay und literarische Kritik", Darmstadt 2003: "Schreibe ich historische Untersuchungen? Ja, aber im strengen Sinn: nein. Sind sie zu erzählerisch. Schreibe ich eine Art Romane? Manche sagen: Schon eher; aber im strengen Sinn: nein. Sie bauen sich nicht um Handlungen; und sie sind auch zu wissenschaftlich", urteilt Theweleit selbstkritisch. "Als Wissenschaft aber nicht recht verortbar", fügt er andererseits hinzu. "Bis heute wissen Buchhändler nicht, wo sie die 'Männerphantasien' hinstellen sollen, zur Faschismustheorie, zur Genderforschung, zur Psychoanalyse, oder sonstwo".

Ja, wie ordnet man solche Bücher überhaupt ein, die man im Internet bei "Ebay" auch schon mal, nun wirklich völlig irreführend, als "Erotik"-Literatur zur Versteigerung angeboten findet? "Ein Kritiker der 'Zeit' nannte meine umfangreichen Sachen einmal 'Theorieromane'", erinnert sich Theweleit nicht ohne Stolz. "Das kommt ihrer Anlage vielleicht näher".

Mag sein. Ein "Theorieroman" ist das neue Buch nun allerdings auch wieder nicht geworden. Eher ein multiples Lese- und Handbuch zu film-, literatur- und kulturtheoretischen Themen verschiedenster Couleur. Das fängt schon mal gleich, gewissermaßen zum 'Eingrooven', mit einem längeren Text zu Bob Dylan an. Wie ein Fluss strömt der Beginn dieser liebevollen Abhandlung heran, auch wenn man sich erst mal wieder daran gewöhnen muss ... an die vielen Auslassungspunkte nämlich ... auch so ein Markenzeichen ... das durchaus Widerwillen erregen kann ... wie ein erster harter Schnaps nach langer Abstinenz ... aber dann kommt sie auch schon ... die altvertraute Wirkung.

Als absoluter Dylan-Kenner zeigt sich Theweleit hier auf Augenhöhe mit anderen fanatischen Musikjournalismus-Spezialisten wie etwa Günter Amendt oder auch dem unvermeidlichen Diederich Diederichsen. Genauso wie sich seine filmanalytischen Essays mit denen von gewieften Feuilleton-Cracks wie Georg Seeßlen messen können. Doch Theweleit erledigt sein Geschäft anders als diese Kollegen: auf eigene Art, irgendwie auch nochmal um einen Dreh' lockerer und variabler.

Sehr gelungen sind hier etwa der Aufsatz über Andy Warhols MTV-Programme der frühen 80er-Jahre - "Andy Warhol's Fifteen Minutes (more or less)" - oder auch seine Analyse der US-Serienmörderfilme à la "Das Schweigen der Lämmer". Genau hingucken und beschreiben, was da passiert, diese hohe Kunst filmkritischen und filmwissenschaftlichen Essayismus', die beherrscht Theweleit wirklich wie kaum ein Zweiter.

So werden von ihm selbst Carl Barks klassische "Donald Duck"-Comics unter Berücksichtigung seiner zeichnerischen Adaption filmischer Schnitte und Perspektivwechsel seziert, nicht ohne dass dabei depperte Kollegen, die all das mal wieder nicht erkannt haben und einen "kindlichen Zeichstil" halluzinieren, nebenher einen übergezogen bekommen: "Quack. Es ist genau anders: wer in den 40ern in den Staaten und in den 50ern bei uns mit Carl Barks in die Donalds tauchte, lernte mit dem Schweifen und Springen des Auges von Bild zu Bild 'Schnittechniken' ... Verschiebung des Blickpunkts, Halbtotale, Großaufnahme, Achsensprung, Beleuchtungswechsel: die Figuren im Schattenriß. Hoch komplexe Verfahren."

Alles klar. Und dann, bumm-zack, holzt er hinterher: "Es ist aber einfach nach wie vor so, daß Leute, die sogar Bücher über Comics schreiben, die grundlegenden Verfahren des Filmschnitts für kindlich erklären." Dies sei "Quack im Quadrat". So werden den amerikanischen Comics gerne kolonialistische und rassistische Stereotype vorgeworfen, worauf Theweleit nur knapp und treffend entgegnet: "Comics in Amerika sind immer auch Geschichtsbücher. Wenn ich die Elaborate unserer Historiker für den Schulgebrauch im 20. Jahrhundert betrachte, speziell 1940ff, als Barks die Ducks kreiert, sehe ich keinen Grund zu politischem Hochmut irgendeiner Art". Noch Fragen?

Theweleits Stärke ist es, Innovatives immer auch im hierzulande gerne als kulturell 'randständig' Verunglimpften zu erkennen und stark zu machen - allerdings nicht ohne auch klipp und klar zu sagen, wenn dort wirklich nur noch Müll produziert wird, nach vielen Jahren beachtlich neuer TV-Ästhetik: "Momentan reagiert mein Körper (oder was davon übrig ist) mit Abwehr, wenn ich ins MTV zappe. Schnell weg mit den hampelnden schwarzen, weißen, bunten Bubis und Girlies, ein Ekel fast wie bei den Politzombies und den Sprechpuppen der Nachrichtentheken."

Ganz klar: "MTV & VIVA, eine Daueranmache auf Null-Tracks, ein einig Volk von angehenden Zuhältern des Anti-Lust-Lebens, Ruinateuren des Öffentlichen", die eine nichtswürdige Star-"Sternschnuppe" nach der anderen an den Himmel ballern: "Beinarbeit also, das eigene Körpergewicht in den Frontbereich der Scheinwerfer hieven und wieder verschwinden in der nächsten Sprühwolke, die eine neue Schnuppe ausspuckt, mit offenen Keramikzähnchen, um den nächsten Schwall wurstegaler Töne durchzulassen. Was für eine behämmerte Veranstaltung."

Ende der Durchsage!

Und viel Spaß beim Weiterlesen...


Titelbild

Klaus Theweleit: Friendly Fire. Deadline-Texte.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
433 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3878779402

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