This Magic Moment

Susanna Clarke erfindet in "Jonathan Strange & Mr. Norrell" eine Tradition englischer Magie

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

England zu Beginn des 19. Jahrhunderts: König George III. ist an der Macht, die gehobene britische Gesellschaft trifft sich in Ballsälen und Salons, die Damen plaudern beim Tee und die Dienerschaft verrichtet stumm und ohne Klagen ihre Dienste. Fast könnte man sich in einen Roman von Jane Austen versetzt fühlen oder meinen, ein Buch von Charles Dickens zu lesen, wenn sich nicht bereits auf der ersten der mehr als tausend Seiten von Susanna Clarkes "Jonathan Strange & Mr. Norrell" eine Fußnote fände, die auf die "Geschichte und Ausübung der englischen Zauberei von Jonathan Strange, Band I, 2. Kap., verlegt von John Murray, London 1816" verweist. Offenbar gibt es im England Clarkes eine Zauberei, deren Geschichte man erzählen, ja, die man sogar ausüben könnte. Und noch dazu gibt es anscheinend Magier!

Oder es gab sie zumindest: Bis etwa zum 14. Jahrhundert regierten magiebegabte Könige den Norden Englands, bevor die praktische Zauberei aus ungeklärten Gründen nicht mehr betrieben und die Erarbeitung ihrer theoretischen Fundamente zum Zeitvertreib älterer und distinguierter Herren wurde, die sich in Clubs zusammenfanden, um sich dort rein hypothetisch mit Magie zu befassen. Die Ruhe dieser relativ geschlossenen Gesellschaft wird allerdings unerwarteterweise empfindlich durch einen plötzlich auftauchenden 'praktischen' Magier namens Gilbert Norrell gestört. Dieser überraschende Gast glaubt von sich, dass er "der Mann [ist], der auserwählt wurde, England die Zauberei zurückzugeben". Befragte man jedoch die Menschen seiner näheren Umgebung, so würden sie wahrscheinlich ein anderes Urteil fällen: Der Büchernarr, so glauben sie, sei vermutlich der "langweiligste Mann von Yorkshire".

Fast fürchtet der Leser, dass doch wohl eher die Nachbarn des eigenbrötlerischen Norrell Recht behalten könnten, denn der kauzige Alte tut erst einmal - gar nichts. Das heißt, er widmet sich zwar seiner Zauberei, die er als einziger zu beherrschen glaubt und deren Studium er bald allen anderen unmöglich macht, doch diese Magie ist meistens so gar nicht aufregend, sondern eine schrecklich theoretische Wissenschaft, die augenscheinlich trockene Exaktheit erfordert: "Stellen Sie sich einen Mann vor, der Tag für Tag in seiner Bibliothek sitzt; einen kleinen, unauffälligen Mann. Ein Buch liegt vor ihm auf dem Tisch. Ein Vorrat an Federkielen, ein Messer, um sie anzuspitzen, Tinte, Papier, Notizbücher, alles ist zur Hand. Im Raum brennt immer ein Feuer, ohne Feuer im Kamin hält er es nicht aus, er spürt die Kälte. Der Raum verändert sich mit den Jahreszeiten, er nicht." Das ist Mr. Norrell.

Der Leser mag sich also, bis sich etwas Neues ereignet, anderen Rätseln widmen. Zum Beispiel, wo eigentlich Jonathan Strange bleibt, der im Titel genannt und dessen "Geschichte und Ausübung der englischen Zauberei" ja auch in der allerersten Fußnote erwähnt wird, der allerdings im Roman zunächst nicht aufzutauchen scheint.

Irgendwann im Verlauf der nächsten 100 Seiten mag man sich auch fragen, wer denn da eigentlich erzählt, vor allem, wenn die Fußnoten wieder einmal überhand nehmen, einen Großteil der Seite besetzen, sogar auf die nächste übergehen und anscheinend kein Ende mehr nehmen wollen. Der Leser muss sich entscheiden, ob er dem sich sträubenden Plot weiter folgen oder die Fußnote, die unter Umständen eine amüsante Anekdote offeriert, bis zu ihrem Ende lesen will. Der Roman nähert sich in der aus ihm sprechenden Fußnotenwut bisweilen fast einer wissenschaftlichen Monografie an.

Auf der anderen Seite bedient sich die Erzählerin sehr häufig des (einem akademischen Text oftmals unangemessenen) Stilmittels der Ironie: "Es wurde einmal (von einer Dame, die unendlich viel klüger war als die Verfasserin) bemerkt, wie stark die Welt normalerweise an jungen Leuten Anteil nimmt, die sterben oder heiraten", heißt es so ganz unvermittelt. Die gescheite Dame, von der da die Rede ist, ist die Erzählerin aus Jane Austens "Emma". (In einem Interview nennt Susanna Clarke Austen als eine ihrer fünf Lieblingsautoren - weil sie "der Perfektion so nahe kam, wie nur möglich" - neben Dickens, Neil Gaiman, dem Comic-Autor Alan Moore und Joss Whedon, dem Schöpfer der TV-Serie "Buffy the Vampire Slayer".)

Austens Hang zur Ironie mag Clarke übernommen haben, ansonsten frönt sie - ganz im Gegensatz zu ihrem Vorbild - allerdings einem eher ausufernden Erzählstil. Jedes Detail ihres alternativen England wird bis ins Kleinste beschrieben. Die Handlung gerät dabei gelegentlich in den Hintergrund, ab und an hofft man, es ereigne sich bald etwas, treibe einmal etwas den Plot voran.

Zuerst einmal trifft der Leser aber doch noch Jonathan Strange, der tatsächlich mehr Amüsement verspricht als der schrullige Mr. Norrell. Allein schon seine Beschreibung: "Hoch gewachsen" sei er, "charmant" wird er genannt, ein "ironisches Lächeln" nennt er sein eigen. Strange ist ein Lebemann, dessen Entscheidung, Zauberer zu werden, keinem klaren Kalkül, sondern letztlich einem Zufall entspringt. So stellt Strange ganz das Gegenteil zu Mr. Norrell dar - und doch wird er dessen Schüler. Gemeinsam greifen die beiden in den napoleonischen Krieg ein, täuschen die Franzosen mit einer plötzlich aus den Nebeln auftauchenden Fata Morgana nicht vorhandener Marine, errichten blitzschnell Straßen und gestalten die Landschaft um, wenn gerade einmal ein Fluss der Armee im Wege liegt oder eine Stadt.

Man merkt es Susanna Clarke an, dass sie für ihr literarisches Debüt jahrelang recherchierte, bevor sie ihre Mischung aus historischem und phantastischem Roman niederschrieb: Sie kennt die geschichtlichen Fakten genau, und ebenso, wie Strange mehr oder minder behutsam die natürlichen Gegebenheiten den Schlachtplänen Arthur Wellesleys (später besser bekannt als Duke of Wellington) anpasst, wirbelt sie die Daten etwas durcheinander, um ihrem Roman Raum zu geben.

Der Leser erfährt, nachdem die Geschichte in Gang gekommen ist, auch immer mehr über eine geheimnisvolle Prophezeiung, in der von zwei Zauberern berichtet wird, die gegensätzlicher nicht sein könnten - offenbar sind Jonathan Strange und Mr. Norrell gemeint - die Leid erleben sollen und ihr Liebstes verlieren. Daneben ist allerdings auch von einem "namenlosen Sklaven" die Rede, der laut des Orakelspruchs König in einem fremden Land zu werden verspricht. Gleichzeitig taucht eine Reihe undurchsichtiger Gestalten auf: der zwielichtige Childermass, der immer mehr zu wissen scheint, als er gerade zugibt, der seherisch begabte Vinculus und der gefährliche und gewissenlose König des Elfenlands - ein "Herr mit Haar wie Distelwolle" - daneben Politiker, Militärs usw. usw. Der Roman füllt sich mit immer mehr Personal.

Clarke kennt sich dabei anscheinend in den Salons in King Georges England ebenso aus wie in den Küchen und Dienstbotenzimmern: Der dritte wichtige Charakter des Romans - der es bezeichnenderweise allerdings nicht auf das Titelblatt geschafft hat - ist der farbige Diener Stephen Black, eben jener "namenlose Sklave". Der distelwollhaarige Herr glaubt, dass Black wie geschaffen dafür sei, der nächste König von England zu werden und setzt alles daran, diese Idee in die Tat umzusetzen.

Und nun wird eine Tote wieder zum Leben erweckt, Frauen entführt, Abende in Zauberreichen vertanzt, Reisen gemacht - um alles aufzuzählen, brauchte man wohl ebenfalls annähernd tausend Seiten. Trotz der schließlich dennoch in die Gänge kommenden Handlung überzeugt der Roman nicht restlos. Die anfangs originell erscheinende Idee, ein literarisches Werk per Fußnote zu kommentieren, nutzt sich recht schnell ab. Müssen die Figuren eines Romans auch nicht unbedingt sympathisch sein, so hilft es doch, wenn sie zumindest interessant sind. In "Jonathan Strange & Mr. Norrell" verdienen die Nebenfiguren oft mehr Aufmerksamkeit als die Titelhelden, verbergen sie doch zumindest eine spannende Vergangenheit und versprechen die mögliche Entdeckung außerordentlicher Eigenheiten. Statt jedoch Neues über diese Sonderlinge zu erfahren, muss sich der Leser immer wieder durch verschneite, neblige oder verzauberte Landschaften kämpfen und stapft dabei oft mürrisch und erschöpft hinter der unermüdlichen und eifrig plappernden Erzählerin her. Man verbringt müßige Stunden in staubigen Salons und bemüht sich, der vor sich hin dümpelnden Konversation zu folgen. Man quält sich durch die Beschreibungen hochgradig theoretischer Magie und wartet...

Immer wieder jedoch passt einfach alles zusammen - und plötzlich befindet man sich auf lauten englischen Straßen wieder, weicht vorbeifahrenden Kutschen aus und folgt dem eifrig Botengänge erledigenden Stephen Black in reizvoll aussehende Geschäfte. Oder man schaut durch die hohen Fenster des Tanzsaales der Elfen und spitzt die Ohren, um auch ja nur alle geflüsterten Geheimnisse zu erfahren.

Solche Augenblicke nennt man wohl magische Momente.


Titelbild

Susanna Clarke: Jonathan Strange und Mr Norrell. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Rebekka Göpfert und Anette Grube.
Berlin Verlag, Berlin 2004.
1021 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3827005221

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