Modernisierung oder Fortschritt

Ein Band zur Reformgermanistik 1965 bis 1980

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die germanistische Fachgeschichte des 19. Jahrhunderts ist historisiert und dem politischen Streit enthoben. Die der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann nicht ohne den Bezug auf den deutschen Faschismus betrachtet werden, dem namhafte Fachvertreter zugearbeitet haben. Diskussionen dazu gibt es allenfalls darüber, wie welche Haltungen zu bewerten sind. Kaum jemand mag heute die Germanistik der Restaurationszeit nach dem Zweiten Weltkrieg verteidigen - so bleibt, lässt man Kontroversen über aktuelle methodische Neuorientierungen beiseite, der Umbruch der 60er und 70er Jahre als möglicher Streitpunkt. Nicht zufällig steht aber hier die Fachgeschichtsschreibung eher am Anfang; die meisten der Akteure leben noch, manche Entwicklungslinien sind noch nicht an ihr Ende gelangt, viele Akten bleiben noch auf Jahre hinaus gesperrt. Gleichzeitig dürfte sich heute kaum ein Germanist, welcher politischen Couleur auch immer, ein Fach zurückwünschen, wie es vor 1968 bestand - auch das mag die Kritik abmildern, die viele gern gegen die gesellschaftlichen Vorstellungen der damaligen Erneuerer äußern würden.

Der von Klaus-Michael Bogdal und Oliver Müller herausgegebene Band zur Germanistik zwischen 1965 und 1980 führt vielfältige Perspektiven auf den damaligen Umbruch zusammen (die Zeitgrenzen werden mehrfach und wohlbegründet überschritten). Dokumentiert sind die Vorträge und Diskussionen einer Tagung von 2002, vor allem Beiträge von Wissenschaftlern, die die Neuorientierung des Fachs mitgestalteten. So beschreibt Siegfried J. Schmidt seinen Ansatz einer empirischen Literaturwissenschaft, die zu einem umfangreichen Forschungsprogramm geführt hat, wenn es auch auf die Mehrzahl der Fachvertreter keinen Einfluss ausgeübt hat. Erfolgreicher, vielleicht gerade weil unkonturierter, waren institutionelle Neu- und Umgründungen, die sehr unterschiedlichen Wissenschaftlern Arbeitsmöglichkeiten eröffneten. Wilhelm Voßkamp stellt das Bielefelder "Zentrum für interdisziplinäre Forschung" vor, Siegfried Grosse beschreibt den Beginn der Bochumer Universität sowohl in institutionsgeschichtlicher Perspektive als auch unter dem Blickwinkel von Architektur und der spezifischen Zusammensetzung der Studierendenschaft. Führte die Universitätsgründung, wie geplant, hier zur Aufwertung einer ganzen Region, so scheiterte die Absicht, kleine und überschaubare Einheiten zu schaffen, bald an der stetig wachsenden Zahl der Studierenden.

Übersichtlich blieb dagegen die Siegener Germanistik, die Helmut Scheuer vor allem unter dem Gesichtspunkt vorstellt, wie Helmut Kreuzer das Institut geprägt hat. Die Gesamthochschule Siegen war Nachfolgeorganisation einer Pädagogischen Hochschule. Das führte mit besonderer Konsequenz zu der Frage, in welchem Verhältnis Lehrerausbildung und Forschungsauftrag stehen sollten. Die Berufsbildungsfunktion der Germanistik wird in mehreren der Aufsätze und vielen Diskussionsbeiträgen angesprochen - als wichtiges Korrektiv einer Fachgeschichtsschreibung, die sonst eher an Forschern und ihren Methoden, weniger an der Lehre interessiert ist. Dass die Lehrerbildung für viele Hochschulgermanisten um 1970 im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, mag aber auch charakteristisch für eine Zeit gewesen sein, in der man mittels der Beschäftigung mit Sprache und Literatur hoffte, zu einer Veränderung der Gesellschaft beizutragen. Umgekehrt ist der Rückzug auf die Forschung zum einen Ausdruck eines Verlusts an Hoffnung, zum anderen wohlbegründete Abwehr gegen eine nun von der Politik aufgezwungene technokratische Verstümmelung des Lehrbetriebs.

Jedenfalls ist fraglich, ob die Bremer Erfolgsgeschichte, die Hans-Wolf Jäger der Siegener hinzufügt, wirklich als solche gelesen werden sollte. Während Versuche fehlschlugen, die Schranken zwischen Schule und Universität abzubauen, gewann allmählich die zunächst als links verschriehene Bremer Germanistik doch Ansehen in der Forschung. Damit verbunden sind wissenschaftliche und persönliche Erfolge, die man niemandem missgönnen möchte und wichtigen Nachwuchskräften überhaupt erst die Möglichkeit boten, durch Forschung ihr Leben zu finanzieren. Doch irritiert, wie abgeklärt das Scheitern der Absichten, mit denen man einst Germanistik betrieb, nun gesehen wird.

Im Band dominiert der Blick auf die Neugründungen der 60er und 70er Jahre; Beiträge von Horst Peter Kasper zu Bochum, Michael Vogt zu Bielefeld und Doris Rosenstein zu Siegen ergänzen ihn durch die Perspektive der damals Studierenden. Die amerikanische Germanistik ist Thema im Vortrag von Peter Uwe Hohendahl, der den Wandel einer Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft mit großer historischer Tiefenschärfe darstellt. Die detaillierteste Untersuchung ist hingegen der Germanistik an einer Traditionsuniversität gewidmet. Hans Peter Herrmann beschreibt die Entwicklung des Freiburger Seminars vom Ordinariat Walther Rehms bis in die Gegenwart. In vieler Hinsicht erscheint Freiburg dabei als Gegensatz zu Siegen: Gab es dort mit Kreuzer den einen machtvollen Initiator von Reformen, so vertraten die drei Freiburger Ordinarien der späten 60er Jahre - neben Herrmann Gerhard Kaiser und Wolfram Mauser - gegensätzliche (hochschul-)politische und methodische Positionen. Daraus resultierten Konflikte, die umso grundsätzlicher ausgetragen wurden, als es anders als in Siegen nur punktuell zu einer Ausweitung des Gegenstandsbereichs ins Trivialliterarische oder eine allgemeine Medienwissenschaft kam. In durchaus bildungsbürgerlicher Tradition blieb der hochliterarische Kanon der Gegenstand, an dem Werte erprobt und durch den Werte vermittelt wurden. So konnten sich auch später Diskursanalyse und Poststrukturalismus in Freiburg nie dauerhaft etablieren. Unter institutionspolitischem Gesichtspunkt stellte sich auch die basisdemokratische Orientierung der Freiburger Linken auf die Dauer als Nachteil gegenüber der Siegener Reform von oben heraus.

Die beiden jüngeren Vorträger der Tagung versuchen entschlossener als die seinerzeit Beteiligten eine Historisierung der vergangenen Debatten. Oliver Sill bezieht sich auf die bildungsbürgerliche Prägung, wie sie im Freiburger Institut stark geblieben ist und deren gesellschaftliche Relevanz seit langem schon schwindet. Die Reformgermanistik der 60er und 70er Jahre versteht er als letzten, illusionsbeladenen Versuch bildungsbürgerlich geprägter Wissenschaftler, ihren Gegenständen noch einmal gesellschaftliche Relevanz zuzusprechen. Die Bildungsexpansion dieser Jahre habe diese Illusion ebenso begünstigt wie die Vorstellung mancher Germanisten, mit der Arbeiterklasse eine neue Trägerschicht ihrer Werte zu finden. Mitte der 80er Jahre sieht Sill das Fach "auf dem harten Boden einer sich rasch wandelnden Gegenwartsgesellschaft, in der die Berufung auf eine lange Tradition nichts mehr nützt", angekommen - ohne dass er sagen könnte, was außer einer Auseinandersetzung um die Werte, um die es in literarischen Werken geht, die institutionelle Beschäftigung mit ihnen überhaupt legitimieren könnte.

Überzeugender fällt die Historisierung aus, die Gabriele Metzler aus politikwissenschaftlicher Sicht leistet. Sie vertritt die These von "langen 60er Jahren", die von etwa 1957 bis etwa 1973 reichen und von einem technokratischen Glauben an die rationale Planbarkeit gesellschaftlicher Modernisierung gekennzeichnet sind. Die Kämpfe von 1967/68 sind in dieser Sicht nur Symptom einer Entwicklung, die sich weitaus wirksamer in der alltäglichen Lebenswelt wie in den Konzeptionen einer neuen Schicht von Entscheidungsträgern vollzieht. Bedeutsam werden die Aktionen der Radikalen allenfalls durch die Wirkung, die sie auf die Reformer üben: Manche Wissenschaftler, die bis zur Mitte der 60er Jahre für eine liberale Modernisierung stehen, werden derart verschreckt, dass sie fortan als überzeugte Konservative auftreten.

Im Vorwort skizzieren die Herausgeber einen begrifflichen Rahmen, an den sich wie gewohnt die Beiträger nur manchmal halten, der jedoch eine genauere Auseinandersetzung lohnt, insoweit auch er sich an einer Historisierung orientiert. Sie schlagen zur Analyse das Begriffspaar Innovation und Modernisierung vor, wobei Innovation eine fachinterne Erneuerung bezeichnet, Modernisierung hingegen die Reaktion auf gewandelte gesellschaftliche Leistungsanforderungen kennzeichnet. Beides kann zusammengehen, muss es aber nicht; die gegenwärtige Anpassung der Studiengänge an das, was im Bologna-Prozess angeblich gefordert wird, ist zum Beispiel in Bogdals und Müllers Sinne eine Modernisierung, wahrscheinlich aber keine Innovation. (Übrigens überrascht, dass in der ausführlichen Dokumentation der Tagungsdiskussionen nirgends die Sprache auf die gegenwärtigen Reformen kommt.)

Das Wortpaar Innovation und Modernisierung ersetzt einen wertenden Fortschrittsbegriff und scheint dadurch hilfreich für einen analytischen Zugriff jenseits ideologischer Kämpfe. Das kann nützlich sein: "Wenngleich man aus dem Studium der Vergangenheit nicht direkt erfolgreiche Planungen der Zukunft ableiten kann, darf man doch annehmen, dass ein besseres Verständnis funktionaler Zusammenhänge in einem begrenzten Untersuchungsfeld auch dazu genutzt werden kann, in Zukunft Effekte, die sich aus der Transformation der Wissenschaftsorganisation ergeben, besser abzuschätzen." Man muss den Satz nicht so technokratisch verstehen, wie er bei der ersten Lektüre klingt; doch dazu muss man wissen, dass über die gewünschten Effekte wie auch darüber, was für die und in der Wissenschaft als "erfolgreich" gilt, durchaus zu streiten ist.

Zukunftsplanung ist Fortschrittsplanung (niemand verändert etwas freiwillig, wenn er nicht das Neue für besser oder wenigstens zweckmäßiger hält); der Streit über Fortschritt ist stets, ob bewusst oder nicht, an Interessen gebunden - und, falls unbewusst und vorgeblich "unideologisch", umso gründlicher. Das eröffnet auch eine Erkenntnischance, die die Beiträger meist umso bewusster nutzen, je kritischer sie gegenwärtige Entwicklungen beurteilen. So gelingt gerade Herrmann, der offensichtlich bis zur Emeritierung Auseinandersetzungen zu führen hatte, ein relativierender Blick auf die eigene Geschichte, während aus Bremen und Siegen der Gewinn an wissenschaftlicher Reputation zu Recht als Erfolg berichtet wird, doch der Einklang von Innovation und Modernisierung den Blick auf den gesellschaftlichen Wandel verstellt, dem er sich verdankt und dem er die Absolventen lieferte.

Das deutet an, dass Fachgeschichte ohne Streit darüber, was fortschrittlich ist und was nicht, doch nur bedingt geschrieben werden kann. In vorliegendem Band sind nützliche Erinnerungen, Analysen und Diskussionen vereint; das Buch gibt Anhaltspunkte, was innovativ war und was modern. Eine Zusammenfassung ist freilich ohne zumindest implizite Wertsetzung ebenso wenig denkbar wie eine Zukunftsplanung es ohne die Vorstellung ist, worin gesellschaftlicher Fortschritt besteht.


Titelbild

Klaus-Michael Bogdal / Oliver Müller (Hg.): Innovation und Modernisierung. Die Germanistik zwischen 1965 und 1980.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2004.
262 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3935025742

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