Die Hölle, das sind die anderen

Jan Guillous Roman "Evil" aus dem Jahr 1981 in deutscher Übersetzung

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Du bist das personifizierte Böse und als solches musst du vernichtet werden!", brüllt der Schulrektor, bevor er Erik Ponti von seiner Lehranstalt verweist und ihm verspricht, jede andere Schule der Stadt vor der von ihm ausgehenden "moralischen Zersetzung" zu bewahren.

Das "personifizierte Böse" ist zu diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt und der Kopf einer Bande von Jugendlichen, die an der Schule kleine Summen gegen horrende Zinsen verleihen, säumige Zahler verprügeln und systematisch Schallplatten für den Weiterverkauf entwenden.

Das "personifizierte Böse" weiß allerdings auch, wie es sich anfühlt, mit einer Kleiderbürste, mit einer Birkenrute oder einer Hundepeitsche geschlagen zu werden. Es hat einen Weg gefunden, wie man selbst schlimmste Prügel erträgt: "Man musste sich weit weg denken, sich auf das Bild eines kleinen glühenden Feuers weit hinter den geschlossenen Augen konzentrieren; wenn man den Vater richtig hasste, konnte man das Bild des blauen Feuers in einen Funken sprühenden kleinen Stein verwandeln." Und es weiß, dass man dem Vater die Hand geben muss, wenn dieser die reguläre "Nachtischprügel" beendet hat.

Jan Guillou - vor allem durch seine Spionagethriller um Coq Rouge bekannt - entwirft auf den ersten Seiten seines bereits 1981 in Schweden erschienenen und als autobiografisch geltenden Romans kein einfaches Bild seines jugendlichen Helden: Auf der einen Seite hat man Mitleid mit Erik Ponti, der zu Hause erlebt, dass der, der prügelt, die Regeln bestimmt, und der auch in der Schule lernt, dass "physische Stärke, ein schöner Körper mit gut entwickelten Muskeln, dazu Mut und der Wille, niemals nachzugeben", die "Oberklasse" der Schüler vom Rest, vom "Müll" unterscheidet. Auf der anderen Seite kontrolliert Erik seine Clique mit kalter Berechnung, schlägt mit ungeheurer Brutalität zu und kennt dabei keine Gnade.

Guillou entschuldigt seinen Protagonisten nicht durch dessen verfehlte Erziehung, zieht jedoch starke Verbindungslinien zwischen den Misshandlungen, die ihm der Vater zufügt, der Erik in der Schule eingetrichterten Theorie vom Recht des (arischen) Stärkeren und der kalkulierenden Erbarmungslosigkeit des Jungen. Interessant ist allerdings vor allem, dass Erik sein Tun durchaus reflektiert, dass ihm seine Gegner meist Leid tun, er die Umstände jedoch trotzdem als gegeben und notwendig hinnimmt. Die gewiss nicht einfach zu beantwortenden Fragen, wie Gewalt entsteht, wie sie vermieden werden und ob und wann sie gerechtfertigt sein kann, deuten sich bereits hier an, werden jedoch im Verlauf des Buchs immer deutlicher gestellt und erfordern immer komplexere Antworten.

Vom Rektor für sein kriminelles Wesen von der Schule verbannt, eröffnet sich Erik eine neue Chance: Seine Mutter, die bisher ihrem schlagenden Ehemann nur passiv zugeschaut hatte, bringt ihren Sohn im Eliteinternat Stjärnsberg unter. Auf dem Weg dorthin schwört sich der Junge, sich nie wieder zu prügeln. Sein Vorsatz gerät allerdings schnell wieder ins Wanken, als er von der dort praktizierten "Kameradenerziehung" erfährt: Die älteren Mitschüler quälen und tyrannisieren die jüngeren - angeblich zur Aufrechterhaltung der Disziplin und der Ordnung, jedoch auch mit deutlicher Lust an der Macht und der Zufügung von Schmerz. Wer sich wehrt, wird nur noch härter bestraft oder fliegt von der Schule. Die Lehrer geben sich ahnungslos und übersehen blaue Flecken und kleine Wunden.

Gerade die nüchternen und emotionslosen Schilderungen von Brutalität und die mit klinischer Genauigkeit beschriebenen Torturen im Hause der Pontis und in Stjärnsberg machen es dem Leser paradoxerweise unmöglich, einen distanzierten Standpunkt zu bewahren. Hier spritzt Blut bis zur Decke, hier brechen Knochen, hier werden die Jungen mit Fäkalien überschüttet - alles im Namen der Erziehung und der Herausbildung eines starken Charakters. Der Leser wird gleichfalls zum Voyeur: Schaut er nicht ebenso zu wie die Lehrer, wie die Mitschüler, wenn Erik wieder einmal von seinen Peinigern gequält wird?

Der Junge fügt sich der "Kameradenerziehung" anfangs, um seine Ausbildung nicht zu gefährden. Schließlich will er sich allerdings nicht weiter ohne Grund demütigen lassen und beginnt, das System zu boykottieren, es durch Duldung der Strafen auszuhebeln, was ihm aufgrund seiner antrainierten Leidensfähigkeit erst einmal auch gelingt. Eriks Zimmergenosse Pierre, ein Pazifist und Intellektueller, erzählt ihm begeistert von Gandhi: "Man muss andere Methoden anwenden als Gewalt, wenn man gegen die Gemeinheit kämpfen will, und man muss viele kleine Leute auf einmal sein, wenn es klappen soll." Die beiden führen lange Gespräche, um zu ergründen, welche Reaktionen ein System wie das in Stjärnsberg rechtfertigt - kann man Hass nur mit neuem Hass bekämpfen, Angst nur durch noch mehr Angst, Gewalt mit Gewalt?

Pierre hält es für das Beste, sich möglichst unauffällig bis zum Abitur zu lavieren. Erik dagegen mag die Ungerechtigkeiten nicht aushalten. Ihn interessiert auch der Grund für die Torturen, denen er sich ausgesetzt sieht: Was treibt die Älteren dazu an, die Jüngeren zu unterdrücken? Pierre erwartet, dass sein Zimmergenosse den Kampf gegen die Ungerechtigkeit gewinnt, weil er für ihn das Gute verkörpert, doch Erik glaubt nicht mehr an die einfache Unterscheidbarkeit von Richtig und Falsch: "Aber dann sagst du, der Unterschied ist, dass ich weiß, dass ich Recht habe [...]. Das sagst du aber nur, weil du auf meiner Seite stehst. [...] Wimmelt es auf dieser Welt nicht nur so von Leuten, die total schief liegen, aber absolut überzeugt von etwas sind?"

Obgleich Erik zu Anfang von Gandhis Methode überzeugt ist, verliert er irgendwann das Vertrauen in die Möglichkeit, durch passiven Widerstand etwas zu erreichen, zumindest im elitären Stjärnsberg. Das System, das die Mitglieder des Schülerrats, die so genannten "Ratis", in ihrer Machtausübung stützt, beruht ebenso auf Tradition wie auf dem Phänomen der bequemen Mitläuferschaft: "Das Problem ist, dass sie [die Mitschüler] schon zu lange hier sind. Dass sie wirklich glauben, wir werden hier zu einem härteren Menschentyp, der draußen im Leben besser zurechtkommt, weil er gelernt hat, Schläge einzustecken und Schläge auszuteilen".

Und es scheint, als habe Erik Recht: Kaum einer der Jungen schließt sich den beiden Zimmergenossen an, als sie versuchen, das System zu unterminieren. Stattdessen richtet sich der Zorn der älteren Schüler auf den schwächeren Pierre. Als dieser die Misshandlungen nicht mehr aushält, verlässt er das Internat - und Erik, nicht mehr von der Sorge um den Kameraden gehalten, geht auf einen Rachefeldzug.

Dass es ihm erst durch Zuschlagen aus dem Hinterhalt, Guerilla-ähnliche Attacken auf die älteren "Ratis" gelingt, sie zur Einstellung ihrer Schikanen zu zwingen, dass Erik auch zu Hause "ein letztes Mal" zur Gewalt greifen will, um den Vater ein für alle Mal zu besiegen, erscheint, wenn auch realistisch, dann doch zumindest problematisch. Der Roman wirft unangenehme Fragen auf: Kann man die Spirale aus Hass, Gewalt und Gegengewalt verlassen oder zwingen die Umstände, die menschliche Natur oder die Gesellschaft jedes Individuum immer wieder dazu, zu kämpfen, um sich zu behaupten - notfalls auch mit der Faust?

Am Ende des Romans entschließt sich Erik, Rechtsanwalt zu werden, um das System von innen heraus und gewaltlos zu verändern. Jan Guillou dagegen wurde Schriftsteller und Journalist - angeblich, weil man mit Skandaljournalismus mehr erreichen kann denn als Jurist. Seine mit dem Kollegen Peter Bratt verfassten Enthüllungsartikel über die Existenz eines am schwedischen Parlament vorbei operierenden militärischen Geheimdienstes ("Informationsbyrån"), brachten Guillou freilich Anfang der 70er Jahre eine Haftstrafe wegen Spionage ein.


Titelbild

Jan Guillou: Evil - Das Böse.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
380 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446206469

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