Historical Correctness

Ernst Offermanns kratzt in seinem Buch "Die deutschen Juden und der Spielfilm der NS-Zeit" am Selbstverständnis einer politisch korrekten Filmgeschichtsschreibung

Von Fehmi AkalinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fehmi Akalin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gehört zu den grands récits der - vornehmlich deutschen - Filmgeschichtsschreibung, dass dem Spielfilm eine herausragende Bedeutung sowohl in der Vorbereitung als auch in der Konsolidierung der NS-Herrschaft zukommt. Stand für die 'Wegbereiter-These', nach der ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den autoritären und regressiven Ideologien in den Filmen der 1920er und der frühen 1930er und dem Wahlerfolg der NSDAP besteht, Siegfried Kracauers einflussreiche sozialpsychologische Studie "Von Caligari zu Hitler" (1947) Pate, so hat die in den 1960er Jahren einsetzende kommunikationswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem NS-Film ein ebenso wirkungsmächtiges Beobachtungsschema eingeführt, an dem noch heute Filmhistoriker laborieren: Im Nationalsozialismus hätten nahezu alle Spielfilme eine politisch-propagandistische Funktion erfüllt, sodass die eigentliche Frage nur lauten könne, ob es sich dabei im Einzelnen um 'manifest politische' oder 'latent politische' Filme handelte - tertium non datur! Dominierte dabei zunächst die Analyse des 'manifest politischen Tendenzfilms' die Forschungspraxis, so rückte bald der 'unpolitische' Unterhaltungsfilm mehr und mehr ins Zentrum des Forschungsinteresses, getreu dem rhetorischen Gemeinplatz, dass jene Propaganda die wirkungsvollste sei, die nicht dafür gehalten werde - der Unterhaltungsfilm als Trojanisches Pferd.

Problematisch an solch einem Theoriemodell ist nicht nur das Festhalten an einem obsoleten behaviouristischen Menschenbild - das Publikum als Trivialmaschine -, sondern auch jene Form der kontingenzneutralisierenden Kausalzurechnung, die alternative Ursachen und Wirkungen ausblendet, indem sie - wie in diesem speziellen Fall - die Machtergreifung und den Machterhalt der Nationalsozialisten auf eine erfolgreiche 'Massenpropaganda' zurückführt und komplementär dazu die Wirkung des Unterhaltungsfilms in der 'systemkonformen' Ideologieproduktion sieht.

Insbesondere der zweite Teil dieses fragwürdigen Attributionsmodells wird von Ernst Offermanns in einer schmalen Streitschrift (130 Seiten) nach allen Regeln der empiriegesättigten Geschichtsschreibung einer massiven Dekonstruktion unterzogen. Berichte von Zeitzeugen und andere Zeitdokumente wie die Tätigkeitsberichte von Kulturveranstaltern oder Produktionsnotizen stellen für den Autor eine feste Grundlage für die These dar, dass der Unterhaltungsfilm vor und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch und gerade von den 'deutschen Juden' keinesfalls "als bloßes Derivat des antisemitischen politischen Systems beargwöhnt und abgelehnt", sondern im Gegenteil "durchweg als unideologisch eingeschätzt [...]" wurde. Diese generelle These wird von Offermanns in einer dezidierten Absetzbewegung von der etablierten Filmforschung entlang der drei Komponenten der Filmkommunikation - von der Produktion über die Distribution bis zur Rezeption - in äußerst überzeugender Form plausibel gemacht, wobei sein besonderes Interesse ganz im Sinne einer 'Geschichtsschreibung von unten' der Rezeptionskomponente gilt.

Was die Produktionsseite betrifft, so gibt es für Offermanns weder für die Zeit vor noch nach 1933 (bis zum Ausbruch des Krieges) einen Beleg dafür, dass der Unterhaltungsfilm in irgendeiner Weise "intentional" den Faschisten zugearbeitet hätte. Angesichts der Tatsache, dass beispielsweise an den überaus populären nationalen Historienfilmen der frühen 30er Jahre - von denen die Filmgeschichtsschreibung eine Linie zu den während des Zweiten Weltkriegs gedrehten nationalistischen Durchhaltefilmen zieht und in denen sie "manifest nationalistische, militaristische, autoritäre oder nationalsozialistische Denk- und Verhaltensmuster" propagiert sieht - "namhafte jüdische Filmproduzenten und -künstler" beteiligt waren, erscheint Offermanns die "Vorstellung", diese hätten "dem notorischen radikalen Antisemiten Hitler den Weg zur Macht" geebnet, schlichtweg "absurd". Auch emigrierte Künstler attestieren in ihren Berichten "der Produktion, insbesondere der Ufa", generell das Bemühen, dem "politischen Druck" nicht nachgegeben, diesen gar "unterlaufen" zu haben, indem sie etwa eine Politik des "Ausweichens vor der deutschen Gegenwart" betrieb, ihre Sujets zumeist ins Ausland oder in die Vergangenheit verlagerte. Es ist bemerkenswert, dass Offermanns hier nicht in die übliche Dämonisierung des eskapistischen Films einstimmt, sondern gerade in diesem eine erfolgreiche Immunisierungsstrategie gegenüber den Interventionsbemühungen der NS-Kulturpolitik sieht.

Auch ein zweites, von der 'Kulturindustrie'-Kritik hartnäckig vertretenes Axiom - das der unheiligen Allianz zwischen kapitalistischem Wirtschaftssystem und Politik - wird hier ad absurdum geführt: Es gelang den Nationalsozialisten nicht, den Film in ähnlicher Form wie die Presse oder den Rundfunk gleichzuschalten, einfach weil "man das zahlende Publikum nur ins Kino ziehen kann, wenn man ihm das bietet, was es sehen will", wie Offermanns zustimmend den Publizisten Heinrich Fraenkel zitiert. Jedenfalls steht die vorherrschende Produktionspraxis dieser Zeit in diametralem Gegensatz zu den Intentionen Goebbels, der beispielsweise im Jahre 1935 auf einem Filmkongress dem Unterhaltungsfilm vorwirft, "[...] vor der Härte des Tages [zu] entweichen und sich in einem Traumland [zu] verlieren, das nur in den Gehirnen wirklichkeitsfremder Regisseure und Manuskriptschreiber, sonst aber nirgendwo in der Welt liegt". Erst ab 1941/1942, nach ersten militärischen Krisen, nimmt Goebbels seine massive Kritik am deutschen Unterhaltungsfilm teilweise zurück und spricht nun davon, dass Unterhaltung "auch kriegswichtig" sei.

Auch die Berücksichtigung der Distributionsseite, von der Filmgeschichtsschreibung zumeist sträflich vernachlässigt, erlaubt wertvolle Einsichten in die Filmkommunikation in der Nazi-Diktatur. Im Rahmen des 'Jüdischen Kulturbundes', 1933 "im Einvernehmen mit den deutschen Regierungsbehörden" zur "Pflege der künstlerischen und geistigen Bestrebungen der Juden in Deutschland" ins Leben gerufen, von staatlicher Seite als "Instrument der Ghettoisierung" betrachtet, vom Propagandaministerium im Kompetenzgerangel mit der SS demonstrativ geduldet, nimmt die Berliner Filmbühne nach dem 'Erlass des Kinoverbots für Juden' im November 1938 ihre Arbeit auf und stellt zahlen- und einnahmemäßig "das Hauptkontingent der Kulturveranstaltungen des Kulturbundes" dar. Jedoch: Das Repertoire bestand überwiegend aus jenen deutschen Filmen, "die zumeist während der Jahre 1938-41 gedreht worden waren, also in der Phase der gefestigten NS-Diktatur". Eine "spezifisch jüdische [...] Kultur in Deutschland" existierte nämlich nicht, die wenigen Exemplare stießen beim Publikum auf "Skepsis, Desinteresse oder gar offene Ablehnung". Stattdessen sind die Veranstalter bemüht, die Aufführung der zumeist amerikanischen und deutschen Filme "terminmässig so anzusetzen, dass sie gleichzeitig mit der Uraufführung der grossen Berliner Premierentheater stattfinden" können, wie es in einem 'Bericht der Filmabteilung' nicht ohne Stolz heißt.

Die Jahresberichte des 'Kulturbundes' gewähren auch interessante Einblicke in das Rezeptionsverhalten des jüdischen Publikums. Filme, die in den 'öffentlichen' Kinos die populärsten sind, sind auch in der 'Filmbühne' die größten Publikumsmagneten. Der erfolgreichste Film des Jahres 1939 ist "Robert Koch, der Bekämpfer des Todes" - ein Film, der der Filmgeschichtsschreibung bis dato als antisemitischer Tendenzfilm gilt, u. a. weil er auf der message-Ebene angeblich eine Identifizierung der Tuberkulosebakterien mit dem Judentum vornehme. Für die jüdischen Zuschauer indes war er einfach ein Film mit "überdurchschnittliche[m] Unterhaltungswert". Offermanns beschränkt sich jedoch nicht auf quantitative Daten, um das zeitgenössische Publikumsverhalten zu rekonstruieren, vielmehr und vor allem lässt er ausgiebig die Betroffenen selbst zu Wort kommen. In den Schilderungen dieser Zeitzeugen kommt denn auch eine - den Prämissen der üblichen Filmforschung völlig widersprechende - "unvoreingenommene, unbefangene, aufgeschlossene und zumeist zustimmende Einstellung deutscher Juden" gegenüber dem Spielfilm der NS-Zeit zum Ausdruck.

Besonders eindringlich sind die Berichte derjenigen, die nach dem Erlass des Kinoverbots oder nach der Deportation aus dem Untergrund trotz erheblicher Risiken den Besuch eines Kinos wagten. Aufschlussreich sind auch die Berichte des "jüdischen Kinoenthusiasten" Victor Klemperer. Lediglich an einer Stelle seiner Tagebuchnotizen kommt Klemperer auf die politischen Aspekte eines Films zu sprechen, ansonsten steht bei ihm eindeutig der Unterhaltungscharakter der Produktionen im Vordergrund, insbesondere haben es ihm die Schauspielerstars angetan. Beim 'Zwangsumzug' in eine enge Wohnung muss er seine umfangreiche Bibliothek auflösen, "doch die großen Kinoprogramme mit ihren amüsanten Bildern sollen bewahrt werden". Als Klemperer nach dem 'Kinoverbot für Juden' das erste Mal nach sieben Jahren wieder ein Kino besuchen kann, fällt seine Wahl auf den Marika Rökk-Film "Die Frau meiner Träume" von 1944 - auch er ein Lieblingsobjekt der ideologiekritischen Filmforschung; Klemperer ist von dem Film enttäuscht, nicht jedoch aus politisch-ideologischen Gründen, sondern einzig und allein aus künstlerischen: Sein Verdikt "Abenteuer im Circus- und USA-Stil" bewegt sich eindeutig im Rahmen des Kunst-, nicht etwa des Politik-Diskurses.

Es sind nicht zuletzt diese Passagen, in denen Offermanns dank einer geschickten Kompilation von Einzelzeugnissen die lebendige Rekonstruktion der Bedeutung des Films in einer dunklen Zeit gelingt - einer Zeit, in der sich die moderne Differenzierung von Unterhaltung und Politik, einmal eingeführt, trotz allem nicht so leicht wieder rückgängig machen lässt. Auch wenn der Autor diese Schlussfolgerung nicht explizit zieht, so lassen sich für eine empirische Kunstsoziologie aus Offermanns überaus lesenswerter Studie doch sehr differenzierte und instruktive Einsichten in die gleichzeitige Independenz und Interdependenz von Politik und Kunst gewinnen - Einsichten, zu denen die orthodoxe Filmgeschichtsschreibung aufgrund einer falsch verstandenen political correctness bis heute mehrheitlich offenbar nicht fähig ist.


Titelbild

Ernst Offermanns: Die deutschen Juden und der Spielfilm der NS-Zeit.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
130 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 3631538146

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch