Befreiung aus dem Abfallsack

Urs Widmers Roman "Ein Leben als Zwerg"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich heiße Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter groß und aus Gummi." So leitet der 67-jährige Schweizer Autor Urs Widmer seinen neuen Roman ein, der thematisch eine Fortsetzung seiner beiden "Familien"-Romane "Der Geliebte der Mutter" (2000) und "Das Buch des Vaters" (2004) präsentiert. Erzählt wird die Geschichte des kleinen Uti (Urs) allerdings aus der gebrochenen (Kinder-)Perspektive des Zwergs, des Lieblingsspielzeugs des späteren Schriftstellers. Ein solcher Zwerg fungiert noch heute als Widmers Talisman, beäugt ihn auf seinem Schreibtisch und begleitet ihn zu Lesungen.

Viele Schauplätze ähneln denen aus den Vorgängerwerken, erhalten aber aus der ungewöhnlichen Erzählperspektive eine völlig andere, herrlich-komische Dimension. Wenn Vigolette alt mit seinen 15 fröhlichen Gefährten das Widmer'sche Haus erkundet, wirkt das wie eine Forschungsreise, wie eine Expedition ans Ende der "Zwergen"-Welt. Es ereignen sich sogar wahrhaftige Tragödien in dieser skurrilen Gemeinschaft, denn irgendwann in den Ferien geht der "Grünsepp" im Engadin verloren, und sein eilends gekaufter Vertreter weist völlig andere Charaktereigenschaften auf. Uti und seine Schwester Nana haben jedenfalls unbeschwerte, fantasiereiche Kindertage mit Vigolette und seinen Kumpanen verbracht.

Urs Widmer hat diese Geschichte, die gleichermaßen an "Schneewittchen" wie an Tolkiens "Herr der Ringe" erinnert, mit leichter Hand geschrieben. Die Freude am Fabulieren schwingt durch jede Zeile. Die Zwerge werden durch Kinderaugen in denkende und handelnde Wesen verwandelt, während sie beim Anblick von Erwachsenen erstarren.

Der Ich-Erzähler Vigolette fungiert als Spiegelbild des Kindes Uti und des späteren Schriftstellers Urs und liefert uns einige herzerfrischende Anekdoten. Wie der Gummizwerg aus kindlich-naiver Sicht über den Beischlaf der Eltern berichtet und vom verzweifelten Schriftsteller erzählt, der seine Olivetti-Schreibmaschine aus dem Fenster schmeißt - das liest sich gleichermaßen humorvoll wie märchenhaft.

Nachdem er einige Jahre in einer Hosentasche des Schriftstellers zugebracht hat, landet Vigolette gar in einem Abfallsack, aus dem er sich aber befreien kann und an die Seite des erfolgreichen Schriftstellers zurück kehrt - im festen Wissen: "Ohne mich schafft er es nicht." Mit dem Schriftsteller, dessen Haar lichter wird und einem "Gestrüpp" ähnelt, ist auch der Zwerg in die Jahre gekommen und beklagt seinen Verfall: "Wenn ich mich jäh bewege, bröseln Gummibrocken an mir herunter."

Am Ende beneidet man Urs Widmer, diesen Schelm mit ernstem Antlitz, um diesen kleinen, lebenslustigen, manchmal auch etwas vorlauten Wegbegleiter - Glücksbringer und Aufpasser in Personalunion.

"Ein Leben als Zwerg" ist ein humorvolles Brevier, das an Baron Münchhausen und Hans Christian Andersen erinnert und einige vergnügliche Lektürestunden bereitet.


Titelbild

Urs Widmer: Ein Leben als Zwerg.
Diogenes Verlag, Zürich 2006.
192 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3257065132

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