Wie ein Literatur-Wettbewerb funktioniert

Iris Radisch gibt mit "Die Besten 2003" eine Dokumentation des Bachmann-Wettbewerbs 2003 und der Wettbewerbsbeiträge heraus

Von Malte HorrerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Horrer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie wollten schon immer einmal wissen, wie ein bedeutender Literaturwettbewerb funktioniert und mit welchen Leistungen man ihn gewinnt? Lesen Sie dieses Buch, "Die Besten 2003"! Sie lesen gerne interessante und schöne Literatur? Dann lassen Sie's bleiben!

Ob man den Bachmann-Wettbewerb tatsächlich einstellen sollte, wie allenthalben von seinen Beobachtern gefordert wird, kann ich nicht einschätzen, weil ich die so genannten TDDL (Tage der deutschsprachigen Literatur) zu Klagenfurt nicht ein einziges Mal live miterlebt habe. Wohl aber kann ich mich äußern zu dem Buch, das die Jury-Vorsitzende Iris Radisch aus dem Wettbewerb des Jahres 2003 zurechtgezimmert hat.

Das Buch ist sehr logisch und interessant aufgebaut, es dokumentiert den Bachmann-Wettbewerb von Anfang bis Ende: Es beginnt mit einem kurzen Vorwort der Herausgeberin und Jury-Vorsitzenden Radisch. Daran schließt an der Begrüßungsvortrag des österreichischen Schriftstellers und Preisträgers von 1977, Gert Jonke, und dann folgt der eigentliche Hauptteil: die Wettbewerbsbeiträge der geladenen Autoren. Von den 18 vorgetragenen Texten sind allerdings nur zehn abgedruckt, nämlich die vier, die einen Preis bekommen haben, und die sechs, die von den verbleibenden bei der Jury noch die größte Zustimmung gefunden haben, wobei den vier bepreisten Texten direkt ein Auszug aus der Diskussion der Jury nachgestellt ist. Nach den Wettbewerbsbeiträgen dokumentiert das Buch umfassend die Ermittlung der Preisträger durch die Jury und das Echo, das der Wettbewerb von 2003 in der deutschsprachigen Presse gefunden hat. Es schließt mit einem ausführlichen Verzeichnis der Autoren.

Diese sind fast alle zwischen 30 und 45 Jahre alt, haben studiert und sind häufig über feuilletonistische Tätigkeiten in die Schriftstellerei hineingerutscht. Ihre Wettbewerbsbeiträge sind zum einen kurze Prosatexte, die speziell für diesen Wettbewerb verfasst wurden, zum anderen Auszüge aus bislang unveröfflichten längeren Texten (Romanen) der Autoren. Sie sind im Großen und Ganzen sprachlich überambitioniert und inhaltlich leer. Sie sollen trotzdem im Einzelnen kurz vorgestellt werden:

Inka Pareis "Anfang eines längeren Textes" ist genau das, der Anfang eines Romans, der inzwischen unter dem Titel "Was Dunkelheit war" bei Schöffling erschienen ist. Mit diesem Textauszug hat Parei den Bachmann-Preis 2003 errungen (und zusätzlich den Publikumspreis). Der Text ist die Todesgeschichte eines alten Mannes, der ein etwas verlottertes Mehrfamilienhaus in Frankfurt-Rödelheim geerbt hat und in eine der Wohnungen gezogen ist. Seine Nachbarn beobachtet er durchs Fenster und - das klassische Motiv - vermutet irgendwo kriminelle Machenschaften, eventuell im Hotel, das sich im gleichen Haus befindet und dessen Flur mit dem Flur der Wohnung des alten Mannes über eine Stahltür verbunden ist, die er jedoch verschlossen hält. Der Textauszug reißt an der Stelle ab, an der der alte Mann seine Beobachtungen für diese Nacht vor Erschöpfung abbricht und sich zu seinem Bett schleppt, um beim Sterben in den Himmel zu sehen. Der Roman aber beginnt dann wohl erst richtig und er lebt von seiner Intensität: Zwar wird das Geschehen nicht aus der Sicht des alten Mannes geschildert (kein Ich-Erzähler), aber es wird in seinem Tempo erzählt; der Text ist so langsam wie der alte Mann. Er nimmt sich die Zeit für genaue Beobachtungen der Straße, des Regens, des Hinterhofes, der Nachbarn. Würde man es sich als Film denken, fiele er durch seine zahlreichen Standbilder und Nahaufnahmen auf. Der Text kommt den Dingen sehr nahe. Das ist seine unbedingte Stärke.

Feridun Zaimoglu lieferte mit "Häute" eine "unheimliche, archaische Dorf- und Jungfrauen-Eroberungs-Geschichte" (Volker Weidermann, FAZ), für die er in Klagenfurt den "Preis der Jury" eher zu Unrecht bekommen hat. Zaimoglu versucht hier, was viele seiner Konkurrenten auch versucht haben: mehrere Geschichten auf gezwungenermaßen wenigen Seiten miteinander zu verweben, um die Größe seiner geistigen Komplexität zu beweisen. Er will nicht zu einfach, zu gradlinig wirken, aber genau da, wo der Text gradlinig wird, wird er interessant, möchte man weiterlesen. Aber genau da ist der Text auch schon zu Ende.

Der Ernst-Willner-Preis ging an Ulla Lenze und ihren Romanauszug "Schwester und Bruder", in dem die beiden deutschen Geschwister via Mitfahrgelegenheit durch Indien fahren, damit der blinde Bruder zu einem Weisen gelangt, der seine Blindheit heilen soll. So banal diese hier gegebene inhaltliche Darstellung auch klingen mag, es ist der erste und einzige Text, der ohne wenn und aber Lust macht auf mehr. Bei Inka Parei bleibt die Angst, dass man sie tatsächlich nicht verstehen könnte, bei Feridun Zaimoglu kann man sich fast sicher sein. Ulla Lenze aber tut das wichtigste, was eine Schriftstellerin tun kann: Sie erzählt eine Geschichte. Wirklich eine Geschichte, die ein Motiv hat, das Spannung auslöst, und eine Handlung, die diese Spannung fortführt. Und weil die Geschichte wirklich spannend ist, ist sie auch nicht plump. Spannend und interessant wird die Geschichte durch die Beziehungen der Menschen untereinander, die Ulla Lenze sehr fein aufbaut: Wird die latente Erotik zwischen den Geschwistern irgendwann aufbrechen? Werden die Geschwister den gesuchten Ort und den Weisen finden? Wird ihr "Fahrer" seine Mutter vor deren Tod noch einmal sehen und sich mit seiner Familie aussöhnen? Wird der Bruder wieder sehen können? Diese Fragen können einen fesseln! Wer eine Antwort haben will, dem sei "Schwester und Bruder", das inzwischen als Roman bei btb erschienen ist, empfohlen.

Den Spannungsbogen mag für konservativ und altbacken halten, wer will, er trägt dennoch. Wer nichts zu sagen hat, kann die schönste Schreibe der Welt haben, es nützt nichts! Sowenig eine dünne Suppe durch noch so bunte Farbstoffe leckerer wird, sowenig helfen die schönsten Alliterationen, Allegorien und Synekdochen einem inhaltsleeren Text. Die Jury aber muss sich von derlei selbstgenügsamen Sprachexperimenten beeindrucken lassen haben im Falle von Farhad Showghis "Die große Entfernung", das nichts weiter ist als ein gähnend langweiliges Stakkato von zwanzig Varianten eines Vatersehnsuchtskomplexes. Diese ergebnislose sprachliche Masturbationsübung hat ihm bei den TDDL 2003 den 3sat-Preis eingebracht.

Alsdann folgen ähnlich sprachlich überfrachtet, ähnlich verquer, ähnlich Luft ejakulierend Henning Ahrens' Romanauszug "Commander Coeursledge" (eine Art ungenaues Kochbuch für Soldaten), Christina Griebels "Der Schlafanzug" (ein seelischer Kampf der Protagonistin mit dem Schlafanzug eines ehemaligen Liebhabers unter Anrufung der Jungfrau Maria - irgendwo anzusiedeln zwischen Psychomist und Seelenblähungen) und Lukas Hammersteins "Die hundertzwanzig Tage von Berlin" (ein gescheiterter Versuch, großstädtische Popliteratur nachzuahmen).

Besser: Olga Flors "Wiederkehr" (eine Tochter zieht zu ihrem verwitweten Vater zurück), Gregor Hens' "John F. Kennedy und der Ausbruch des Irazú" (einmal im Leben Kennedy sehen) und Norbert Müllers "Huhn in der Suppe" (eine Satire auf den Theaterbetrieb). Alle diese Kurzgeschichten sind gut erzählt, vielleicht auch deshalb, weil sie Kurzgeschichten sind. Die Stoffe tragen nicht über die Kurzgeschichte hinaus, das war aber auch keine Wettbewerbsbedingung. Insofern sind es gute Beiträge, die nicht den von Iris Radisch betonten Fehler so vieler Klagenfurt-Texte machen, sehr geheimnisvoll zu tun, ohne ein echtes Geheimnis zu haben.

"Die Besten 2003" ist sicher nicht die Sammlung der "besten Texte, die die junge deutschsprachige Literatur 2003 zu bieten hat", wie es der Klappentext verheißt, aber zwei Texte, die zu den besten des Jahres gehören dürften, sind doch darunter, wenn man von dem jeweiligen kurzen Ausschnitt auf den ganzen Roman schließen darf: Inka Pareis "Was Dunkelheit war" und Ulla Lenzes "Schwester und Bruder". Diese zwei Romane seien nachdrücklich empfohlen. Die besprochene Dokumentation des Bachmann-Wettbewerbs 2003 aber ist nur etwas für die, die über diesen Wettbewerb noch genauer informiert sein möchten als durch diese Rezension oder die sich ein eigenes Urteil bilden wollen.


Titelbild

Iris Radisch (Hg.): Die Besten 2003. Klagenfurter Texte.
Mit den Texten der Preisträger Inka Parei, Feridun Zaimoglu, Ulla Lenze, Farhad Showghi.
Piper Verlag, München 2003.
224 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-10: 3492045383

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