Topografie einer Scheinwelt

H.G. Adlers "Theresienstadt" ist endlich wieder neu aufgelegt

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer das Buch "Theresienstadt" in den letzten Jahrzehnten erwerben wollte, war an Antiquariate verwiesen - und musste etwas investieren: Preise von 120 bis 150 Euro waren und sind die Regel. Der Göttinger Wallstein-Verlag hat nun lobenswerterweise die zweite, erweiterte und verbesserte Auflage von 1960 neu aufgelegt. Geschrieben hat Adler das Buch zwischen 1945-48, erstmalig veröffentlicht wurde es 1955 und drei Jahre später mit dem "Leo Baeck-Preis" ausgezeichnet. Bis heute gibt es kein weiteres umfassendes Werk in deutscher Sprache zum KZ Theresienstadt; Adlers Buch ist nach wie vor Standard und wird in den Publikationen immer noch lobend erwähnt.

Den Plan, dieses Buch zu schreiben, fasste Adler freilich schon früher: als er selber Insasse des KZ Theresienstadt war. Adler, 1910 in Prag geboren, war vor dem Nationalsozialismus dichterisch tätig. Er studierte Musikwissenschaft, Literatur, Philosophie und Psychologie an der Deutschen Universität in Prag; 1935 konnte er dort noch über "Klopstock und die Musik" promovieren. Im Herbst 1939 misslang ihm die Flucht vor den Deutschen. Ab August 1941 wurde er zur Zwangsarbeit beim Eisenbahnbau herangezogen, im Februar 1942 wurde er mit seiner Frau und einigen Verwandten nach Theresienstadt deportiert. Sein Vater wurde bald in Chelmno ermordet, seine Mutter in Trostinetz, seine Frau und deren Mutter in Auschwitz, wo auch Adler selbst im Oktober 1944 für ca. zwei Wochen inhaftiert war, bevor er in ein Nebenlager des KZ Buchenwalds weiterverbracht wurde. Dort wurde er am 13.04.1945 befreit. Er kehrte zunächst nach Prag zurück und emigrierte 1947 nach London, wo er 1988 starb.

Historiker wurde Adler durch das, was man ihm antat. Neben "Theresienstadt" publizierte er "Die verheimlichte Wahrheit. Theresienstädter Dokumente" (1958), "Der Kampf gegen die 'Endlösung der Judenfrage'" (1958), "Die Juden in Deutschland" (1960) und nicht zuletzt sein zweites großes Werk, "Der verwaltete Mensch" (1974). Neben verschiedenen Romanen, wie z. B. "Panorama" (1948 geschrieben/1968 veröffentlicht), "Die Reise" (1950-51/1962), "Die unsichtbare Wand" (1954-56/1989) und Gedichtbänden gibt es von ihm auch soziologische Arbeiten, die in "Die Erfahrung der Ohnmacht" (1964) und "Die Freiheit des Menschen" (1976) vorliegen. Sein gesamtes Werk thematisiert die Verfolgung, ihre Darstellung, Gründe und Folgen.

Auch wenn Adler stets das Ideal der Sachlichkeit hochhielt und im Falle von "Theresienstadt" wie ein ethnologischer Feldforscher verfahren wollte, "vorurteilsfrei und nüchtern", so gab es doch auch "private Gründe" für diesen Band, wie er später in "Warum habe ich mein Buch Theresienstadt 1941-1945 geschrieben?" angab. In Theresienstadt half ihm das pure Vorhaben, zu überleben, nach der Verfolgung war die Abfassung "eine vitale Bewährungsprobe, die ich bestehen wollte." "Theresienstadt" zu schreiben war ihm notwendig, um mit seinen Erlebnissen fertig zu werden.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste schildert die Geschichte Theresienstadts, von seiner Gründung als Garnisonsstadt Ende des 18. Jahrhunderts bis zu seiner Befreiung am 08.05.1945 durch sowjetische Truppen. Das KZ Theresienstadt wurde ab Ende 1941 eingerichtet. Es hatte den Zweck, Juden aus dem Protektorat aufzunehmen, v. a. aber so genannte Prominente, Juden mit Verdiensten (Teilnahme am Ersten Weltkrieg u. ä.) und alte Juden. Es sollte zum einen als Übergangslager dienen für die Vernichtungszentren weiter östlich, v. a. aber als Präsentation als jüdische Mustersiedlung, um die Welt über die Vernichtungsabsichten der Deutschen zu täuschen. Hierzu durfte - natürlich nach einer umfangreichen Säuberung - im Juli 1944 eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes das KZ inspizieren. Wenig später wurde der Propagandafilm "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" gedreht.

Der zweite, bei weitem umfangreichste Teil ist der Soziologie des Lagers gewidmet. Mit einer Unmenge empirischen Materials werden alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens dargestellt. Denn ein solches gab es tatsächlich: nicht nur die überlebensnotwendige Zwangsverwaltung des Elends, sondern auch ein ausgeprägtes kulturelles Leben. "Es fehlte in diesem Lager fast nichts, was nicht die Einrichtungen einer normalen Gesellschaft nachgebildet hätte." Wegen dieses Paradoxons, dem Adler im schmalen dritten Teil, "Psychologie", weiter nachgeht, wurde "Theresienstadt" immer wieder fasziniert-ungläubig rezipiert und zur Gegenwartsdiagnostik herangezogen. Dass Theresienstadt eine "einmalige Wahnwelt" war, ist für Adler eine der Besonderheiten dieses KZs: Vor der permanenten Todesdrohung, während der ständigen Angst vor der nächsten Deportation, führte man ein normales Leben. So entstand ein "Zwischenreich in ständigem Dämmer", in dem man sich normal benahm, indem man irrealerweise versuchte, den Regeln eines normalen Lebens zu folgen, das längst zerstört worden war.

Indem Adler sich bemühte, diesen "traumhaft dämonischen Zwischenbereich" ernstzunehmen und in seiner sozialphilosophischen Dimension zu fassen, sprengte er den Rahmen der Historiografie, die bloß erzählen will, was war (aber dies meistens auch nicht macht, und so tut, als ob). Adlers umfangreiche Beobachtungen und Deutungen sind aber nicht nur gegen gegenwartsdiagnostische Lesarten, wie etwa die Wolfgang Pohrts abzugrenzen, der so viele - aber eben nur banale - Parallelen zwischen Leben im KZ und draußen feststellte, dass er sich - wenn auch in kritischer Absicht - vor ca. dreißig Jahren fragte, ob nicht "die ganze Welt in ein überdimensioniertes KZ verwandelt wurde", sondern auch gegen eine weitere Vereinnahmung, die Adler als Kronzeugen für eine Rationalität der Judenverfolgung nutzen möchte. Adlers Vokabular fügt sich diesem Diskurs zwar ein. Aber weder gibt es in seinen Erläuterungen eine 'Ökonomie der Endlösung' qua Ausplünderung und Ausbeutung der Juden, noch entspringt bei ihm die Shoah der 'Rationalität der Moderne' als solcher oder ihren institutionellen Formen wie Staat und Bürokratie. Die "Lösung der Judenfrage" war den ihm zufolge deutscher Selbstzweck, das "fast ausschließliche Kriegsziel" und eine "pseudo-eschatologische Aufgabe für alle Zeiten." Adler war seiner Zeit damit so weit voraus, das sein Buch früher da war als das, wogegen man es in der Gegenwart immer noch in Anschlag bringen kann.


Kein Bild

Hans G. Adler: Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft.
Mit einem Nachwort von Jeremy Adler. Reprint der 2. Auflage 1960.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
926 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3892446946

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch