Netz mit Löchern

Der neue Kay-Scarpetta-Roman von Patricia Cornwell

Von Andrea NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Aufklärung eines Rätsels steht im Mittelpunkt des Geschehens, wenn ein Krimi, ganz klassisch, nach dem Whodunnit fragt. Das Netz zieht sich zu, und am Ende kann der Täter nicht mehr durch die Maschen schlüpfen. Der psychologische Krimi dagegen durchleuchtet seine Helden, versucht die Geheimnisse eines mitunter zwiespältigen Seelenlebens einzufangen, knüpft ein feines Netz der Konflikte und Abhängigkeiten.

In "Staub", dem neuesten Roman aus ihrer Kay Scarpetta-Reihe, entwickelt die preisgekrönte amerikanische Schriftstellerin Patricia Cornwell jedoch eine dritte Variante: Sie flicht ein Netz ineinander verschlungener Handlungsstränge und unterschiedlicher, durchaus komplex angelegter, mal ambivalenter, mal sogar abgründiger Charaktere, zerschneidet dann die Fäden und lässt sie in der Luft baumeln.

Zweifellos sind die Erwartungen hoch. Kay Scarpetta ist eine Kultfigur; und vielleicht hat Cornwell mit ihrer Chefpathologin sogar ein Genre begründet. Als ihr 1990 mit "Ein Fall für Kay Scarpetta" der Durchbruch gelang, gehörte sie zu den ersten, die die Figur des Gerichtsmediziners in den Thriller einführten. Die intellektuelle, kultivierte Scarpetta, ebenso wie ihr Lebensgefährte FBI-Agent Benton Wesley, ihr treuer Freund, der Cop Pete Marino mit seiner rührend altmodischen brachialen Männlichkeit, und ihre Nichte, die geniale, aber unglückliche Computerspezialistin und Privatdetektivin Lucy Farinelli, sind Fixsterne im Cornwell'schen Erzähluniversum.

Deshalb nimmt man es auch mit einem Gefühl der Genugtuung zur Kenntnis, wenn Scarpetta in "Staub", fünf Jahre, nachdem sie in Richmond als Chefpathologin entlassen wurde, an ihre alte Wirkungsstätte zurückkehrt, wie immer begleitet und sekundiert von Marino. Ihr Nachfolger, Dr. Joel Marcus, bittet sie bei einem rätselhaften Todesfall um Hilfe. Die vierzehnjährige Gilly Paulson ist unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Als Scarpetta eine weitere Leiche in Augenschein nimmt, macht sie eine alarmierende Entdeckung: Der Täter muss im Krematorium der Gerichtsmedizin gearbeitet haben, denn auf beiden Körpern finden sich feine Spuren von Knochenstaub. Zur gleichen Zeit untersucht Lucy einen rätselhaften Anschlag auf ihre Geliebte Henry, der eigentlich ihr galt - zwei Fälle, die auf merkwürdige Weise miteinander verwoben sind, und wie immer sind Profiler und Psychopath durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden.

Die Handlungsstränge fügen sich jedoch nicht zu einem gefälligen Ganzen. Die Leser, mit vielen offenen Fragen zurückgelassenen, halten quasi die unverknüpften Enden der Fäden des Plots in den Händen. Wie gerne hätte man gewusst, was hinter Dr. Marcus Müllwagen-Phobie steckt - immerhin ein recht originelles Leiden. Und wie geht es mit der psychisch schwer gestörten Mutter der ermordeten Gilly weiter? Trifft auch sie eine Schuld an Gillys Tod?

Auch die Figurenzeichnung des Mörders Edgar Allan Pogue, dieses Psychopathen, der sich in seiner zerfahrenen Lebenswirklichkeit verheddert, ist schablonenhaft, ihr fehlt es an Tiefenschärfe. Seine Beweggründe bleiben verschlossen, seine Taten erscheinen als Inszenierung, deren Drehbuch in seiner unzugänglichen Psyche angelegt ist, während Scarpetta die Folgen an den Leibern seiner Opfer abliest. Der Mörder entzieht sich - womöglich ist dies die Botschaft. Aber sie befriedigt nicht. Denn sie tritt in eine Spannung mit der auktorialen Erzählperspektive, zu der die Autorin mit "Die Dämonen ruhen nicht", der letzten Folge, wechselte und die die Nebenfiguren ebenso wie die Gegenspieler transparenter werden ließ. Mit dieser erzählerischen Neuorientierung scheint zugleich ein Scheitelpunkt erreicht: Zwar überblickt der Leser das Geschehen nun besser als die Ermittlerin, die Ich-Erzählerin der früheren Folgen, aber die Geschichten erweisen sich nicht mehr als tragfähig. In der Welt der gerichtsmedizinischen Spurensuche ist nichts mehr, wie es war, und mit der Scarpetta-Reihe scheint es bergab zu gehen. Kein Wunder, dass auch Scarpettas Rückkehr nach Richmond von Anfang an unter keinem guten Stern steht. Kaum angekommen, muss die berühmte Pathologin beobachten, wie das frühere Gebäude der Gerichtsmedizin, ihre langjährige Wirkungsstätte, abgerissen wird:

"Die gelben Bulldozer und Bagger legen einen alten Gebäudekomplex, der mehr Tote gesehen hat als die meisten Schlachtfelder der Moderne, in Schutt und Asche. Kay Scarpetta bremst ihren gemieteten Geländewagen ab, bis er fast steht. Erschüttert betrachtet sie das Werk der Zerstörung und sieht zu, wie die senffarbenen Baumaschinen ihre Vergangenheit zu Staub verfallen lassen."

Die Versuchung ist groß, dieses Bild der Zerstörung als vorauseilenden Abgesang auf die Scarpetta-Reihe zu interpretieren. Patricia Cornwell, bekannt als Meisterin des Suspense, des erzählerischen Raffinement, des gekonnten Spiels mit Versatzstücken des Genres, muss sich eben an ihren früheren Erfolgen messen lassen. Die alten Bände wollte man nicht aus den Händen legen, so sehr schlugen sie einen in den Bann. Sollte Cornwell nicht zu ihrer alten Form zurückfinden, kann man Scarpetta, die nun schon ihren 13. Fall löst, müde und ein bisschen in die Jahre gekommen, nur einen glorreichen Abgang wünschen - wie es einer Meisterermittlerin gebührt.


Titelbild

Patricia Cornwell: Staub. Ein Kay-Scarpetta-Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Karin Dufner.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005.
429 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3455011004

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