Vielbödig, bodenlos

Drei Erzählungen von Brigitte Kronauer, aus Anlass des Büchner-Preises

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei manchen Autoren denkt man, dass sie den Büchner-Preis längst erhalten haben. Weit gefehlt: Brigitte Kronauer musste fast 30 Jahre lang schreiben, bis man sie endlich damit bedachte. Andererseits kein Wunder: so spröde und intelligent, norddeutsch und abwartend, so vielschichtig und abweisend, so lockend und irreführend wie sie ist keine gefällige Autorin.

Dabei kann man sich in jedem Buch überzeugen, wie sehr sie ihn verdient hat, gerade Kronauer. Nein, sie macht es dem Leser nicht leicht. Aber man kann sich den literarischen, den lebensbereichernden, gedankenvergrößernden, bewussteinserweiternden Lohn verdienen. Auch mit den drei Erzählungen, die anlässlich des Preises neu erschienen sind. Sie erzählen drei Geschichten, ganz unterschiedlich, aber alle mit dem Kronauer-Sound: skeptisch, freundlich, zurückhaltend. Doppelbödig wäre zu wenig gesagt: vielbödig, bodenlos. Aber immer mit einem engen, nie nachlassenden Kontakt zur Realität.

Die älteste Geschichte, "Nis" (1976), erzählt vom zaudernden Anfang des Erzählens, von den Stockungen, dem Erwartungsdruck, dem Räuspern, dem Suchen nach einem akzeptablen Ende: "Gut, ein Ereignis jetzt. Gab es das? Gut, wenn sie darauf bestanden! 'Eines Tages', so musste ich anfangen." Dabei schwebt "Nis" melancholisch perfide an der Oberfläche, um in wenigen Wörtern ins Tiefe zu stürzen. Uns Leser. "Frau Melanie, Frau Martha und Frau Gertrud" und "Zazzera" dagegen stoßen uns freundlich und gemächlich in den Abgrund. Die italienische Urlaubsfrische, in die der Erzähler seit Jahren fährt, entpuppt und entfaltet sich nach und nach zu einer unbekannten Landschaft. Die vertrauten Personen werden zu Fremden, auch wenn man sie noch von früher, vom letzten Mal kennt. Alles Greifbare, Erwartbare, Festhaltbare verschleiert sich, entzieht sich, rückt in eine kleine Ferne.

Am komplexesten ist die Titelerzählung. In einer Zirkelbewegung, mit immer neuen Anläufen, werden drei alte Frauen beschrieben. Sie werden beobachtet, von außen, aber auch von innen. "Drüben die Frau, in rotem, feuerwehrrotem Kostüm setzt sie Fuß vor Fuß, mühsam, aber man soll es nicht merken. Wäre die Straße nicht so menschenleer, würde sie sich vielleicht noch stärker zusammenreißen." Kronauer springt von einer Frau zur anderen, geht immer tiefer, erzählt von ihren Schwächen, ihrem Unglück, ihren Ängsten, ihrer Einsamkeit. Sie erzählt witzige Geschichten von ihnen und traurige, sie erzählt vor allem sehr verständnisvoll und poetisch: "Alle drei erinnern mich an Domglocken. (...) Sie alle drei (...) schwangen sich so gern hinaus, hinaus über ihre kompakte, glockenförmige Fleischlichkeit". Kronauer denunziert sie nicht, auch wenn sie ihre "Seelenpaniere" nennt, ihre inneren Verstecke. Sie seziert sie, aber so, als ob sie eine Akupunkturnadel führt: mit sanftem Nachdruck und dem stillen Wissen, dass es hilft. Und fast gar nicht wehtut.

Dicht, detailgenau und sehr differenziert webt Kronauer drei Schicksale zusammen, verknüpft Nichtzusammengehöriges ganz lakonisch zu einem vieldimensionalen Fadenteppich. Unsentimental und freundlich weiß sie genau zu unterscheiden zwischen einmischender Fantasie und aufmerksamer Beobachtung: Kronauer lässt den Frauen ihre Würde. Und führt den Leser immer wieder zu sich selbst. Ein großer Text, nur vierzig Seiten lang.


Titelbild

Brigitte Kronauer: Frau Melanie, Frau Martha und Frau Gertrud. Drei Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
115 Seiten, 11,80 EUR.
ISBN-10: 3518223976

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