Break on through (to the other side)

Zu "Starlite Terrace" von Patrick Roth

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Starlite Terrace" geht ohne große Einführung in medias res: "Vor einiger Zeit, es regnete schon seit Tagen in Strömen, erzählte uns Rex, der hinter dem Fenster in Noah's Deli am nahezu überfluteten Ventura Boulevard frühstückte, sein Vater sei ein guter Stepptänzer gewesen, mit seinen Händen aber habe er regelrecht zaubern können." Diese Fingerfertigkeit sei der Grund dafür gewesen, dass Rex' Vater als Gary Coopers Handdouble für einige Close-Ups in "Zwölf Uhr mittags" angeheuert wurde. Erst auf der Beerdigung des Vaters, wenige Monate, nachdem die Dreharbeiten zu "High Noon" beendet worden waren, habe ein Statist Rex diese Geschichte erzählt.

Jene Erinnerung an die Erinnerung einer Erinnerung ist alles, was dem heute alten Mann von seinem Vater geblieben ist, den er nie wieder sah, nachdem dieser seinen Sohn an dessen ersten Schultag vor dem Lehrgebäude absetzte und dann für immer verschwand.

Die vier Erzählungen, die "Starlite Terrace" ausmachen, thematisieren immer wieder Variationen von Erinnerung - ihr Fehlen, ihre Repression, ihre Unzuverlässigkeit und ihre (täuschende, aber umso angenehmere) Vertrautheit. Die Figuren in allen Geschichten überantworten dem Erzähler - einem namenlos bleibenden deutschen Filmjournalisten und (so scheint es zumindest) Schriftsteller - ihre Vergangenheit. Dieser glaubt, dass er durch die Erzählungen das Leben der sich ihm Anvertrauenden übernimmt, so wie sie durch ihr Dasein sein Leben ankündigen und vorwegnehmen. Er ist ihr Sprachrohr, doch sie sagen etwas über ihn aus. Am Ende der ersten Erzählung behauptet er: "Mir war, als hätte ich Rex [...] als mein Eigenstes erkannt. Das mir nicht gehörte. Vielmehr, ich gehörte ihm, war ihm ausgeliefert, ohne es zu wissen. Denn ich lebte ihn ja, täglich, in seiner Flucht, seiner Einsamkeit, seiner verlogen-verlorenen Suche. Nein, umgekehrt, er lebte mich."

Die Erzählungen bleiben auf diese Weise temporal leicht in der Schwebe, wenngleich sie örtlich fest in Los Angeles - und genauer: in der Umgebung eines alten Apartmentgebäudes, eben jenes namensgebenden Starlite Terrace - verankert sind und durch ihr feststehendes Personal - die Bewohner der zusammengehörigen Wohnungen - eine Einheit bilden. Der Verlauf der Zeit ist jedoch auch nur von untergeordneter Wichtigkeit - überformte und halbvergessene Reminiszenzen an die Kindheit überschneiden sich mit Erzählungen aus der Gegenwart, die Träume und beinahe prophetischen Visionen des Erzählers erwecken die Zukunft und verleihen dem Text mythologische Tiefe.

Durch den fortwährend niederprasselnden Regen wird darüber hinaus eine beklemmende Endzeitstimmung aufgebaut - die Apokalypse scheint nahe: "Doch dann, noch im Dunkeln des Bilds", so schreibt der Erzähler, einen Traum rekapitulierend, an den ihn Rex durch seine Schilderungen des Vaters erinnert, "stieß mir das Echo eines anderen, ganz anderen zu, das kurzzeitig hell darin aufklang - und wie Tiergeruch roch es, wie Klang von Hufen kam es heran -, aber nicht zu halten war und obwohl ich mit offenem Auge übers Kissen hinweg ihm nachzustarren suchte, verschwand." Pest, Krieg, Hunger und Tod reiten anscheinend bereits.

"Starlite Terrace" lebt von solch plastischen Bildern und der präzisen Sprache, in der erzählt wird. Patrick Roth scheut sich dabei nicht, altertümlich anmutende Konstruktionen zu gebrauchen ("Wort kam mir ein", "im Traum hieß mir das"), so dass der Text sich nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich apokalyptischen Schriften annähert. Der Autor verdichtet ganze Biografien auf kleinstem Raum, eine Geste bedeutet da schon ein halbes Leben, ein Satz kann eine Katastrophe verbergen: Da wartet jemand darauf, dass seine ihm vor 40 Jahren entfremdete Tochter heimkehrt und ihn vor allem Unbill schützt, da klammert sich jemand verzweifelt an eine Frau, um sich von einer lange verdrängten Schuld zu befreien, die sie ihm vergeben soll, da hofft jemand darauf, dass sich über den Tod hinweg ein Kennenlernen ereignen kann.

Immer wieder wird dabei betont, dass Ungeahntes im Alten zu entdecken und eine Verwandlung manchmal nur durch Zerstörung möglich sei, dass es immer eine Wieder- und Neugeburt gebe. Roth findet dafür ein überzeugendes, durch die ihm aufgebürdete Bedeutungsschwere allerdings beinahe wieder überzogenes Bild, wenn die Hauptfigur der letzten Erzählung, June, in ihrem Swimmingpool durch die ausgestreute Asche des Großvaters taucht, den sie nie gesehen hat. Dem Erzähler genügt es nicht, die Szene zu beschreiben, er muss sie sich selbst und dem Leser interpretieren und seine Eindrücke in ein Netz von Mythologie und Esoterik einspinnen: "Mir war im selben Moment, als stünde ich mit ihr dort unten, sähe mich umtrieben vom All, in Gänze eingehüllt im Staub des Vorfahrs wartend-stehend-schwebend. Im Innern spielend, noch ungezeugt." Aus dieser Ungezeugtheit wird June (deren Name - June: Juno - auch gleich auf weitere Intertexte verweist) dann wie neugeboren emporsteigen, gereinigt und geläutert, ein Phoenix aus der Asche: "als hafte keine Erinnerung am Wasser".

Dieser Konzeption des Wiederbeginns durch den Verfall entsprechend ist das "Echo" des Bilds, das hell im Traum des Erzählers "aufklang", "wie Tiergeruch roch" und "wie Klang von Hufen" herankam, auch nicht nur als Anklang an einen der Reiter der Apokalypse zu verstehen. Der geheimnisvoll Auftauchende ist gleichzeitig auch "Überschreiter" - wörtlich, indem er einen Schritt über den am Boden liegenden Träumenden macht, und symbolisch, indem er dem Träumer eine Grenze der Erkenntnis überschreiten hilft, ihn "befreit". Ihm hat der Erzähler zu verdanken, dass er die Verbindung zwischen sich und Rex erkennt, und sich an eine beiläufige Bemerkung des alten Mannes erinnert, die ihm plötzlich als der Schlüssel zu dessen Geschichte erscheint, "die Antwort auf ein Leben".

"If the doors of perception were cleansed man could see things as they truly are: infinite", heißt es bei William Blake. Auf dieses Zitat bezogen sich angeblich "The Doors", deren "Riders on the storm" der dritten Erzählung in "Starlite Terrace" den Titel gibt, mit ihrem Bandnamen. Der Erzähler von "Starlite Terrace" fasst es etwas anders, wenn es ihm einmal mehr gelingt, aus seinen Träumen eine Erkenntnis zu kristallisieren: "Die Zaumkraft des eigenen Auges, als hätte ich um solche Gesamtsicht lange gerungen, hatte gesiegt, und das Erfaßte mir mit seinen Namen genannt."

Um dieses Erfasste soll der Leser wohl ebenso ringen. Roth macht es ihm nicht einfach - die "Spur einer Spur von Spur", die sich durch die Erzählungen zieht, ist schwierig zu entdecken und leicht zu verlieren zwischen all den biblischen Anklängen, Motivkomplexen und den Anspielungen auf Mythen der antiken und modernen Welt. Die Fragen, die der Erzähler gelegentlich anscheinend stellvertretend für den Rezipienten aufwirft - "Was hatte das zu bedeuten?" oder "Und wer war, im übrigen, Rex?" -, mag sich der Leser dabei auch ohne entsprechende rhetorische Hilfe stellen. Ob er eine ihn befriedigende Antwort darauf erhält, hängt wohl davon ab, inwieweit es ihm möglich und er willens ist, die "Pforten der Wahrnehmung" in Roths Werk zu entdecken, sie zu durchblicken oder gar zu durchschreiten.


Titelbild

Patrick Roth: Starlite Terrace.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
165 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518416626

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