Unendliche Geschichten

Steffen Mensching erzählt in "Jacobs Leiter" von einer besonderen Bibliothek

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein deutscher Schriftsteller reist mit einem Stipendium nach New York, um an der dortigen Universität für drei Monate als "writer in residence" zu arbeiten. Durch die Stadt streifend, entdeckt er - Chelsea, W 26th Street - einen alten Buchladen. Und darin: 4.000 alte Bücher deutsch-jüdischer Emigranten. 4.000 Bücher, die der Antiquar Jack dem Autor zum Erwerb anbietet. Nach einigem Überlegen kauft der Erzähler den Bestand für 15.000 Dollar. Denn die Bücher erzählen Geschichten - und dabei ist es nicht so sehr der Inhalt der Bände, der den Schriftsteller interessiert, sondern vor allem die Biografien der ehemaligen Besitzer, verborgen mitgeteilt in bedeutsamen Anstrichen, vergessenen Postkarten, verblichenen Bemerkungen, aufgehobenen Zeitungsartikeln und eingeklebten Ex Libris. Der Erzähler begibt sich wie ein Detektiv auf die Spur der einstigen Besitzer der alten Bände: Durch den Hinweis auf einen Communisten-Club kommt er z. B. Abraham Jacobi auf die Spur, der im Kölner Kommunistenprozess angeklagt wurde, nach England emigrierte, schließlich in Amerika blieb. Er liest von Max Martin Nathan, dessen Kinderzeichnungen, 1927 und 1928 im "Kunstblatt der Jugend" veröffentlicht wurden und dessen Weg nach England, Amerika, schließlich Australien der Erzähler mühsam recherchiert und rekonstruiert. Schließlich trifft er Hilde aus Berlin in New York, eine der Sekretärinnen, die damals Schindlers Liste tippte und - selbst auf dieser Liste stehend - überlebte.

"Jacobs Leiter" ist eine anregende Mischung aus Dokument und Fiktion, aus Historie und Erzählung, aus Recherche und Erfindung. Mensching war 1998 in New York, er hat die Bibliothek gekauft - und die Geschichten, die er erzählt, sind wahr. Verwoben hat er sie allerdings auf kunstvolle Art und Weise, ihre einzigartige, kaleidoskopartige Präsentation ist das Werk des Autors. Mensching flicht Gedichte zwischen die Schicksale seiner 'Rechercheobjekte' ein, schildert seine Reflexionen über die Stadt New York, erläutert seine Ansichten über das Leben und die Kunst und die Kunst zu leben. Durch diese Mischung verschiedener Themen, Formen und Stile wirkt das Erzählte gelegentlich skizzenhaft, manchmal sogar atemlos, erscheint gerade dadurch allerdings auch gegenwärtig, als beschreibe der Erzähler Gerade-Geschehenes.

Steffen Mensching liest die gekürzte Fassung seiner "Jakobsleiter" selbst: Und er liest sie glänzend, so wie nur ein Autor das Werk lesen kann, das er liebt. Ungekünstelt, unprätentiös und geradeheraus, die Pointen leise heraushebend, die Sarkasmen behutsam betonend. Mensching liest fast, als denke er sich gerade aus, was er sagt, als erzähle er dem Zuhörer wirklich, gerade eben, von jener Zeit in New York, die er Bücher packend im staubigen Antiquariat mit Jacob verbrachte, auf dessen Leiter stehend, und von den Monaten, in denen er recherchierte, Material zusammentrug, das er nun geordnet präsentiert. Gerade diese Unmittelbarkeit fasziniert und zieht den Leser immer stärker hinein in jene Geschichten, die teilweise gerade durch ihre vorgebliche Nichtigkeit (so wundert sich der Cousin Max Martin Nathans, warum Mensching gerade über seinen Vetter schreiben wolle, der doch ein Durchschnittsleben geführt habe) und ihre Fragmenthaftigkeit bestechen.

Das letzte Kapitel von "Jacobs Leiter" gilt dem Silvesterabend 1999: Mensching schaut sich mit seiner Frau und seinem Sohn "Der große Diktator" an - um Mitternacht sind alle zu müde, um den Film noch zu Ende zu sehen, doch Menschings Sohn ist neugierig und will wach bleiben. "Ich will wissen, wie die Geschichte weitergeht", meint er. Das Gefühl teilt der Zuhörer mit ihm. Aber da ist die CD auch schon zu Ende.


Titelbild

Steffen Mensching: Jacobs Leiter. 3 CDs.
Der Audio Verlag, Berlin 2004.
230 Minuten, 22,95 EUR.
ISBN-10: 389813279X

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