Als das 20. Jahrhundert noch jung war

Neues zu "Jugendstil und Kulturkritik"

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Andreas Beyer und Dieter Burdorf herausgegebene Band "Jugendstil und Kulturkritik" blickt zurück auf die vorletzte Jahrhundertwende. Damals waren sich zumindest die Kulturkritiker ziemlich sicher, dass die Kunst des 19. Jahrhunderts nicht mehr das Wahre, geschweige denn das Schöne und Gute beinhalte, stattdessen herrschte weitgehend Unsicherheit darüber, wie dieses denn in der Zukunft aussehen sollte. Diese Verlegenheit versuchte man dadurch zu überbrücken, dass man kurzerhand die nachwachsende Generation zum Hoffnungsträger und den Stil der Jugend zum Neuen schlechthin erklärte. Lässt sich jener Stil in der bildenden Kunst und im Dekor unschwer durch florale Muster und elegant geschwungene Linie erkennen, ist in der Literatur weniger deutlich, welcher Autor nun eigentlich dem Jugendstil zuzurechnen ist. Bei den Frühwerken von Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Rudolf Borchardt ist sich die Forschung bei der Zuordnung allerdings weitgehend einig. Auf diese Autoren konzentriert sich der Sammelband "Jugendstil und Kulturkritik", der u. a. die Beiträge einer interdisziplinären Tagung zu "Rudolf Borchardt und der Jugendstil in Kunst und Literatur" dokumentiert.

Unter der Überschrift "Die Voraussetzungen und Formen der Kulturkritik um 1900" diskutiert Kai Kaufmann Nietzsches Einfluß auf das Denken des jungen Borchardt, Dieter Burdorf die "Gespräche über Kunst", d. h. die fiktiven Dialoge über ästhetische Fragen, die um 1900 Hochkonjunktur hatten, und Heide Eilert die Kunst-Essays und die Walter-Pater-Rezeption von Hofmannsthal, Rilke und Borchardt. Burdorf stellt heraus, daß sich in den Dialogen über Kunst ein behutsamer Umgang mit ästhetischen Fragen ausprägte, der in deutlichem Gegensatz zur Brachialrhetorik nietzscheanisch geprägter Kulturkritik stand. Unabgeschlossen wie der Dialog und durchlässig für das Leben sei auch der Kunst-Essay, sagt Heide Eilert, die überzeugend ausführt, wie sehr Walter Paters Renaissance-Studien das ästhetische Denken des literarischen Jugendstils beeinflußt haben. Ausgespart bleibt leider der Einfluß, den Pater und die Präraffaeliten auf das recht ungewöhnliche Renaissancebild der Jahrhundertwende hatten.

Im zweiten Teil geht es um "Jugend, Bildung und Erziehung" und um die fast mythische Überhöhung, die der Begriff Jugend in dem nach ihr benannten Stil erfuhr. Zwar wird in allen Beiträgen differenziert argumentiert, aber der gesellschaftliche und politische Kontext wird zumeist ausgespart, das gilt auch für Borchardt als Denker der konservativen Moderne. Frank Hofmann analysiert zwar Borchardts Jugendbegriff als homo-erotisches Wunschbild, welches konkretes Begehren ausschloss. Der in dieser Reduktion der Jugend auf die "Jungs" implizierte Ausschluß der weiblichen Jugend, die um 1900 immer vehemter Gleichberechtigung forderte, wird allerdings nicht thematisiert. Einzig Carola Groppe diskutiert in ihrem Beitrag "Zum Verhältnis von Ästhetizismus, Jugendstil und Bildungsidee bei Rudolf Borchardt" die politischen Dimensionen von Borchardts Kulturkritik. Sie analysiert den idealistischen Bildungsbegriff, dem die Jugendstilgeneration huldigte, als soziales Distinktionsmerkmal des Bürgertums, das angesichts der Inflationierung von Bildungsabschlüssen und der Aufstiegswut des Kleinbürgertums um seine Position als kulturelle Elite fürchtete. Rainer Kolks zeigt in seinem Aufsatz "Zucht und Hoffnung, Pädagogische Akzente bei George und Rilke", wie das Thema "Jugend" in Verbindung mit den verschiedenen Ausprägungen der Kulturkritik stand.

Im dritten Teil geht es um "Jugendstil zwischen bildender Kunst und Literatur". Ingo Starz zeigt in seinem Aufsatz über den weitgehend vergessenen Maler Ludwig von Hofmann, wie dessen Gemälde, die auf heutige Beobachter eher banal wirken, auf Hermann Bahr, Hofmannsthal und Rilke starken Eindruck machten. Jutta Heinz beschreibt in ihrem hervorragenden Aufsatz "Auf einmal weiß ich viel von den Fontänen, Metamorphosen eines Jugendstilmotivs bei Rainer Maria Rilke", wie Rainer Maria Rilke die Heinrich Vogeler-Vignette einer Fontäne poetisch an- und abverwandelt. Irene Booses Aufsatz "Stil als Lebensform, Adolf Loos in seinen Schriften" versucht, den als Architekten und Architekturtheoretiker bekannten Adolf Loos als Schriftsteller zu präsentieren. Statt neuer oder unbekannter Texte diskutiert sie allerdings vor allem dessen berühmten Essay "Ornament als Verbrechen" und bringt bei dem Versuch, dieses gegen seine Kritiker zu verteidigen, kaum neue Argumente vor; zudem geht sie auf die Fragwürdigkeiten von Loos Modernebegriff nicht ein.

Insgesamt bietet "Jugendstil und Kulturkritik" eine Sammlung gut recherchierter und kenntnisreich geschriebener Aufsätze. Der Zusammenhang zwischen Kulturkritik und Jugendstil wird überzeugend nachgewiesen, auch wenn bei anderer Autorenauswahl das Ergebnis vermutlich weniger eindeutig ausgefallen wäre.

Titelbild

Andreas Beyer / Dieter Burdorf: Jugendstil und Kulturkritik.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1999.
236 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3825309398

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