Inquisitorische Verhöre

Wolfgang Tornow berichtet aus der Hartz IV-Hölle

Von Sandra KluweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Kluwe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 13. Oktober 2005 publizierte die ZEIT einen Traum. Regierung, Opposition, Gewerkschaft, Wirtschaft und "Intellos" einigen sich darin einstimmig auf ein Wundermittel gegen die Arbeitslosigkeit, die Geistlichen vermitteln "den Mühseligen und Beladenen in Wort und Tat praktisch, was Hilfe zur Selbsthilfe heißt" - doch an dieser Stelle bricht der Traum ab, und Peter Hartz, so der Name des Träumers, bekennt in einer selbstironischen Wendung, dass die Kommunikation seiner Wunschphantasie, "ein Zauberer" und nebenbei "ein wunderbarer, sympathischer, liebevoller Alleinherrscher" zu sein, nichts als leere Akkus zurücklässt.

Wo die Überwindung der Arbeitslosigkeit ein schöner Traum bleibt, muss das "Märchen" von der real existierenden Arbeitslosigkeit zum Antimärchen werden. Wolfgang Tornows gleichnamige Satire setzt der "Sei-hart(z)"-Parole demgemäß ein Teufelshorn auf und verquickt das Anti-Märchen vom Ende des Sozialstaats überdies mit dem Anti-Mythos vom Ende der Liebe: Infolge der Marketingoffensive "Götter-erfolgreich-in-die-Zukunft" und der einschlägigen Rationalisierungs- und Prozessoptimierungsmaßnahmen wurde Amor in den Vorruhestand geschickt. Seither verschießt der Liebeshimmel seine Geschosse per Mausklick, wobei die Pfeile den Herstellern von Kondomen, Tampons und Babykost als lukrative Werbefläche dienen. Auf diese spritzige Satire über die Ökonomisierung der Liebe folgt eine - offenbar autobiografisch fundierte und deutlich weniger spritzige - Liebesgeschichte zwischen der frustrierten Prinzessin Tamara und dem frustrierten Prinzen Wolle.

Das Decrescendo dieser Romanze fällt mit Wolles Absturz in die Arbeitslosigkeit zusammen. Dieser kommt einem Absturz in die Hölle gleich, denn "Obersatan" hat Insolvenz anmelden müssen und sein Marketing in die "Toffelanstalt für Arbeit" ausgelagert. Alles, was der Protagonist Wolle nunmehr an inquisitorischen Beratungsgesprächen, absurden Weiterbildungen usw. über sich ergehen lassen muss, ist im wahrsten Sinne 'des Teufels', wobei das zähklebrige Höllen-Pech von den Arbeitsvermittlern als "Desinteresse an der Besserung der eigenen Situation" bewertet wird. Wolle kämpft sich, um das Gegenteil zu beweisen, von Fortbildung zu Fortbildung, versucht sich mit "initiativer Bewerbung" und "aktivem Telefonieren", denn in der Wirtschaft ist es "ein unheimlicher Pluspunkt, wenn man zielstrebig und aktiv seine eigenen Interessen vertritt".

Auch zur flexiblen Anpassung an Bewerberprofile ist Wolle bereit: "arbeiten in einer Firma z. B. viele Einzelgänger, dann fallen meine Unterlagen halt so aus, als wäre ich der perfekte Einzelkämpfer. Und wenn es ein Laden ist, in dem Teamarbeit groß geschrieben wird, dann bin ich halt ein Teamplayer!" Auf die Frage der Freundin "Du kannst nicht so sein, wie du bist?" entgegnet Wolle: "Nee, Schatz, in der heutigen Zeit geht das nicht mehr. Da muss man sich gut verkaufen."

Doch leider führen Marketingstrategien und Aktivierungspädagogik zu keinem anderen Ergebnis als der Traum von Peter Hartz: Am Ende der vergeblichen Mühen sind Wolles Batterien ausgebrannt, und eine neue Energie- und Geldquelle ist dennoch nicht in Sicht. Der einzige Lichtblick auf halber Strecke bleibt ein Nebenjob als Telefonist in einem Versandhaus: Wolle erfährt, dass Arbeit sinnvoll sein kann, indem er - dem Grundsatz der Gewinnorientierung zum Trotz - die Reizwäschenbestellung eines zwölfjährigen Mädchens storniert, das von seinem Vater missbraucht wird. Er muss diesen Wohltätigkeitsjob aber bald aufgeben, um bei einer Zeitarbeitsfirma, die ihn nach vielen Überstunden wieder entlässt, als Kaffeemaschine und Rasenmäher in Dienst zu treten.

Nun wird es erst richtig schlimm: Wolle muss ein- bis zweimal pro Woche zum "Verhör" aufs Arbeitsamt. Einer der Termine wird mit zehn Minuten vor Öffnung des Amtes besonders ehrgeizig gelegt - als Wolle, vor verschlossenen Türen stehend, den Termin nicht wahrnehmen kann, wird ihm mit der Streichung seines Arbeitslosengelds gedroht. Das Antimärchen endet mit einem einigermaßen paranoid anmutenden Schlusspanorama, worin der "Obersatan" zusammen mit den Wirtschafts-Dämonen und Polit-Kobolden die Strategien für den nächsten Wahlkampf aushandelt. Die angestaute Frustrationsaggression des Protagonisten (und wohl auch des Autors) entlädt sich hier in einem Feindbild-Szenario, das die Hartz-IV-Politik und Hitlers Autobahnbau in einem Atemzug nennt.

Übertreibende Verdeutlichung gehört zum Wesen der Satire, und die naive Moral der Schwarz-Weiß-Malerei ist das Gattungsmerkmal des Märchens. Auch dürfte Tornows "Märchen von der Arbeitslosigkeit", über die Gattungspoetik hinaus, einige Fakten auf seiner Seite haben, wenn es zeigt, dass die fortschreitende Ökonomisierung unserer Lebenswelt totalitäre Züge trägt. Nicht selten verbirgt ja die Aktivierungspolitik in den Spielarten von 'Fordern und Fördern', Projektmanagement, Performance-Theater, handlungsorientierter Didaktik usw. einen vereinnahmend-manipulativen Charakter hinter liberal-demokratischer Fassade. Mit der undifferenzierten Verteufelung der Arbeitsagenturen ist es natürlich trotzdem nicht getan - zumal Tornows Buch den Zwängen des Selbstmarketings gehorcht und sich manche Lehre der Hartz-IV-Fortbildungen zu eigen gemacht zu haben scheint. Eine projektive, freilich ironische Identifikation mit dem Aggressor signalisiert schon das Cover, das der sozialdarwinistischen "Sei hart(z)"-Sprechblase das A vom Logo der Bundesagentur für Arbeit integriert.

Bleibt die Frage nach der Moral von der Geschicht'. Diese lautet zunächst, dass das hier vorgetragene "Märchen von der Arbeitslosigkeit" keines ist, sondern auf den Erfahrungen des Autors und den Berichten von mehr als zweihundert Arbeitslosen beruht, die Tornow in den Unterrichtspausen seiner Bewerbungstrainings befragt hat. Durch die Dokumentation dieser Erfahrungen treibt Tornow das Märchen von der Sozialromantik und den Mythos der Liebe durch den Mythos des Sisyphus aus. Dass man sich einen Sisyphus, der als SAP-geschulter Computerexperte zwangsweise in den EDV-Einsteigerkurs geschickt wird, keineswegs als glücklichen Menschen vorzustellen hat, dürfte dabei klar sein.

Der Danksagung des Buches ist zu entnehmen, dass dieser Sisyphus während seiner Arbeitslosigkeit von 80 auf 65 Kilo abgemagert ist (Grundnahrungsmittel Brot, alle zwei Tage mit Aufschnitt). Von so jemandem aktiven Glauben an das Kampagnenmärchen von der wundertätigen Eigenaktivität und der Zauberkraft des lebenslangen Lernens zu fordern, grenzt an Zynismus. Man könnte sich vorstellen, dass manch ein Arbeitsloser, dem dieses Märchen aufgetischt wird, mit der Regression auf das 'wirkliche' Märchen reagiert, worin häufig gerade der äußerlich untätige, dafür mental agile 'Ofenhocker' oder der lernunfähige, von der Arbeitsgemeinschaft ausgestoßene 'Dummling' sein Glück macht. Diesem romantischen Wunschtraum freilich setzt "Sei Hartz" die naturalistische Einsicht in die Brutalität des Lebens entgegen.


Titelbild

Wolfgang Tornow: Sei Hartz. Das Märchen von der Arbeitslosigkeit.
Books on Demand, Norderstedt 2005.
172 Seiten, 11,95 EUR.
ISBN-10: 3833429305

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch