Flotte Kühe und nackte Damen

Fotos von E.L. Kirchner

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rasende Kühe. So schnell, dass sie gar nicht mehr richtig zu sehen sind. Nur noch als Strich in der Landschaft. Vorbei ist die Schweizer Gemütlichkeit. Kein Zweifel: Moderne und Geschwindigkeit gehören zusammen. Auch bei Ernst Ludwig Kirchner, dem expressionistischen Maler. 1909 kaufte er sich eine Kamera, um seine Werke zu dokumentieren. Und dann knipste er auch in der freien Natur. Es war natürlich viel einfacher, eine Landschaft zu fotografieren statt den Skizzenblock zu zücken (was Kirchner ebenfalls tat). Bei manchen Fotos allerdings weiß man heute gar nicht, ob es experimentelle Bilder sein sollten, oder ob er versuchte, die reine Bewegung einzufangen. Wie bei den schnellen Kühen, die in puren Geschwindigkeitsstrichen auf den Film kamen, als wären sie von Gerhard Richter gemalt. Oder ob sie einfach doch nur verwackelt sind.

Die Erfindung der Fotografie war ein großer Schock für die Maler. Vor allem die Porträtmaler sahen sich bedroht: Die Fotos sorgten für eine viel schnellere und viel authentischere Abbildung des Porträtierten. Nicht immer allerdings zu deren Vergnügen, so manche und mancher wollte sich denn doch lieber etwas geschönt abgebildet wissen. Selbst manche Maler, die zu genau waren, bekamen Probleme. So riet der Karlsruher Akademieprofessor Wilhelm Trübner seinem Freund Hans Thoma einmal ab, eine befreundete Dame zu malen: "Tun Sie das lieber nicht, Porträtmalen zerstört die Freundschaft."

Dennoch nutzten und benutzten viele Maler die Fotografie. Wahrscheinlich wäre die Entwicklung der modernen Kunst gar nicht möglich gewesen, wenn die Fotografie nicht diesen wichtigen Part der Malerei, das reine Abbilden der Umwelt, abgenommen hätte. Bis zum "Knipsen" als Volkssport war es noch ein weiter Weg: Kameras waren erst sehr umständlich und teuer, dann immer noch teuer. Erst nach dem 2. Weltkrieg wurde das Fotografieren eine Massenbewegung.

Für Kirchner war die Fotografie technisch viel minderwertiger als die Malerei: "Und gerade heute, wo die Photographie, allerdings nur in der Darstellung auf dem direkten, rein okularen Wege, einen so grossen Raum und Wichtigkeit einnimmt, ist die Kunst freier und weiter geworden wie je. Es giebt allerdings auch heute noch Plätze, da die gerade von den Modernsten oft weit über ihre Grenzen überschätzte Photographie die Darstellung von Menschenhand noch nicht ersetzen konnte, und wer weiß, mit welcher Umständlichkeit und gut Glück manches Photo hergestellt werden muß, der wird über den prophezeiten Siegeslauf der Photographie skeptischer denken als gut ist."

Übersehen hat Kirchner allerdings, dass es ja auch schon damals, 1926, als er diesen Text schrieb, eine eigene Kunstfotografie gegeben hat. Auf diesem Auge war der Maler etwas kurzsichtig. Für ihn galt eben: "Kunst schafft der Mensch allein durch seinen Geist mit dem Mittel seiner Hände oder Füße und dem Auge. Das Auge nimmt auf, der Geist gestaltet, die Hand schreibt es nieder."

Trotzdem sind seine Fotos auch Kunstwerke. Eigenständige, klug komponierte Bilder, die nicht nur als Vorlage für Gemälde dienten (wie auch seine vielen Skizzenbücher), sondern eine eigene Bildsprache entwickelten. Vor allem seine Porträts zeigen eine Konzentration auf das Gesicht, die sein malerisches Werk nie hatte. Ganz nah rückt er den Fotografierten, dass der Hintergrund, meist die Veranda seines Hauses in den Bergen, manchmal verschwimmt. Als ob er in das Innere der Abgebildeten kriechen wollte, als ob er dem Charakter hinter dem Gesicht Platz geben, ihn herauslocken wollte. Selbst die vielen schnappschussartigen Nacktbilder haben einen intimen Charakter, einen novellenartigen Lebensausschnitt, oder wie es Cartier-Bresson nennt, den "entscheidenden Augenblick". Und das ist dann doch schon hohe Kunst.

Eingefangen hat Kirchner auf den Schweizer Almen die zerfurchten Gesichter der abgearbeiteten Bauern, ihre doch recht grobgestaltigen Kinder und einige berühmte Männer. Und viele nackte Damen: Es war die Zeit der Bohème-Freikörperkultur. Aber alles ist sorgsam arrangiert und komponiert, schön, stimmungsvoll, klug und sicher. Selbst das noch so verwackelte, scheinbar spontan Geknipste zeigt einen absolut sicheren Bildaufbau: Der Blick, die Kunst - das war und blieb immer das wichtigste für Kirchner.


Titelbild

Ernst Ludwig Kirchner: Das fotografische Werk. Werkverzeichnis und Kommentar.
Herausgegeben vom Kirchner Museum Davos.
Benteli Verlag, Wabern 2005.
320 Seiten, 65,00 EUR.
ISBN-10: 3716514020

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