Ermordet, vergessen, wieder entdeckt

Das lyrische und das dramatische Werk der großen Dichterin Gertrud Kolmar

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Habt Ihr eigentlich die jüdische Lyrikerin Getrud Kolmar gekannt? Sehr begabt. Ist auch irgendwo im Osten spurlos untergegangen", schrieb Elisabeth Langgässer am 18. September 1947 an Rahel und Emanuel bin Gorion, als sie die Nachlasspublikation "Welten" erhielt, die Hermann Kasack im Suhrkamp Verlag herausgegeben hatte. "Irgendwo im Osten spurlos untergegangen" - das hieß natürlich: verschleppt und ermordet.

Gertrud Kolmar, geboren am 10. Dezember 1894 als Gertrud Chodziesner, war während der so genannten "Fabrikaktion" am 27. Februar 1943 in Berlin verhaftet und am 2. März 1943 mit dem 32. "Osttransport" deportiert worden, im offenen Viehwaggon. Fast alle Frauen dieses Transports, sofern sie nicht unterwegs schon erfroren waren, wurden sofort nach der Ankunft in Auschwitz vergast.

"Welten" enthielt 17 längere Gedichte auf 54 Seiten. In seinem Nachwort stellte Kasack eine umfangreichere Sammlung in Aussicht, für die er lange keinen Verlag gewinnen konnte. Bemerkenswert ist die Ablehnung der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur, die Kolmars Werk nicht in die von ihr herausgegebene Reihe "Verschollene und Vergessene" übernehmen wollte, weil es sich bei Kolmar nicht um eine wieder zu entdeckende, sondern überhaupt erst zu entdeckende Autorin handle. Kasack konnte erst 1955 die Sammlung als Publikation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung herausbringen.

1960 wurde die Sammelausgabe noch einmal erweitert von Friedhelm Kemp im Kösel-Verlag herausgegeben, 1980 erschien ergänzend eine Sammlung früher Gedichte sowie ein nachgelassener Zyklus im selben Verlag. Beide Publikationen wurden 1987 zusammengefasst und beim Deutschen Taschenbuch Verlag neu herausgegeben. Inzwischen waren es 475 Gedichte auf rund 760 Seiten geworden.

Das Problem noch dieser Ausgabe war, dass sie grundsätzlich auf der von Kasack 1955 besorgten Sammlung beruhte, die aber "in einigen wesentlichen Punkten unzuverlässig ist". So wurden die von Kolmar konzipierten Gedichtzyklen auseinander gerissen oder ihre Reihenfolge geändert, sowie originale Überschriften, Orthografie und Zeichensetzung nicht immer gewahrt.

Sechzig Jahre nach dem Tod der Autorin ist die erste auf Grund des handschriftlichen Nachlasses und der Erstdrucke erarbeitete und kommentierte Gesamtausgabe der Gedichte Gertrud Kolmars erschienen, herausgegeben von Regina Nörtemann im Wallstein Verlag. Erstmals finden wir die Gedichte in ihrer mutmaßlichen chronologischen Reihenfolge geordnet. Das lyrische Werk wird in zwei Bänden vorgelegt; die Einteilung hat die Autorin in gewisser Weise selbst vorgegeben. In einem Brief an ihren Cousin Walter Benjamin vom 5. November 1934 sprach Kolmar nämlich davon, dass sie erst 1927 "nach einer lange unfruchtbaren Zeitspanne wieder Verse gefunden" habe. Die unkreative Phase in den 1920er Jahren, als Kolmar nicht dichtete, wird durch die Grenze zwischen dem ersten und zweiten Band markiert.

Das erste gedruckte Gedicht Kolmars erschien im Sommer 1917 in einer Zeitschrift; im Herbst kam bei Egon Fleischel in Berlin ein Band mit 40 Gedichten heraus. Die hier gesammelten Texte sind insgesamt der romantischen und neoromantischen Tradition des 19. Jahrhunderts verpflichtet und mitunter ziemlich trivial. Doch tauchen auch hier bereits Themen auf, die das spätere Werk auszeichnen, etwa die Identifikation mit den Außenseitern der Gesellschaft, zum Beispiel in dem "Verlorenen Lied": "Ich bin arm und habe nichts. / Nichts! Garnichts! / Nichts als lange Haare", "kecke Blicke", "reife Lippen", "weiße Glieder", mit denen die Prostituierte ihr Geld verdient. Die Armut zwingt sie zu einem "Leben in Schande", das traurig enden wird: "Einst in zerlumptem Gewande / Scharrt man mich ein im Sande. / Wo? Sagt keiner mir. (...) Vom Strauch fällt die tausendste Beere; / Fault sie, wer sucht nach ihr? / Sterb' ich, wer weint nach mir?"

In den folgenden Gedichtzyklen, die Kolmar zwischen 1918 und 1921 schrieb, verliert sich das Epigonale zunehmend. Auch wenn sie sich formal von den frühen Liedern nur wenig unterscheiden, sei ihnen doch im Gegensatz zu diesen "die Entdeckung des Eigenen, des Ich gemeinsam", notiert die Herausgeberin in ihrem Nachwort. Manche Gedichte aus den so genannten "Frühen Zyklen" I-III sind sehr anrührend. Walter Benjamin war von einigen dieser Gedichte immerhin so beeindruckt, dass er eines ("Das große Feuerwerk") 1928 in der Osterbeilage der "Literarischen Welt" publizierte, zusammen mit einem anderen ("Wappen von Zinna" unter dem Titel "Apfel"), das erst nach der langen Schreibpause entstanden war. Max Rychner regte Benjamin an, weitere Gedichte aus den Jahren 1927-29 in der "Neuen Schweizer Rundschau" zu publizieren, darunter eins der bekanntesten Gedichte Kolmars, "Die Fahrende", dessen letzte Strophe später Nelly Sachs weiterspann:

"Nackte, kämpfende Arme pflüg' ich durch tiefe Seen,
In mein leuchtendes Auge zieh' ich den Himmel ein.
Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,
Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein."

Das in den Jahren 1927 bis 1937 entstandene lyrische Werk Kolmars, das im zweiten Band der Gedichtausgabe versammelt ist, gehört zu den großartigsten Dichtungen deutscher Sprache überhaupt. Es handelt sich um neun Zyklen, zu denen sich einige wenige allein stehende Gedichte gesellen. Handelt es sich bei dem Zyklus "Das preußische Wappenbuch" (1927/28) noch um sehr formstreng gebaute Gedichte, so bei dem letzten Zyklus "Welten" (1937) um rhythmisch freie "Hymnen", die an Hölderlins spätere Dichtung erinnern. "Gib mir deine Hand", sagt der "Engel im Walde", und "komm mit mir; / Denn wir wollen hinweggehen von den Menschen. / Sie sind klein und böse, und ihre kleine Bosheit haßt und peinigt uns."

1933 nahm die menschliche Bosheit eine ungeheuerliche Gewalt an, und Kolmar reagierte darauf mit einer dichterischen Sprache, die Karl Krolow ebenfalls als ungeheuer "gewalttätig" empfand. Ein besonders interessantes Zeugnis dafür ist der Zyklus "Robespierre", den Kolmar 1934 verfasste. Kolmar beschwor mit dem Zyklus die Erinnerung an die Französische Revolution in bewusstem Gegensatz zur nationalsozialistischen Propaganda, die ständig gegen die "Ideen von 1789" agitierte. Die Machtergreifung wurde als "Gegenrevolution gegen 1789" gesehen, ja Goebbels befand, dass mit der "Revolution von 1933" "das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen" sei.

Kolmar dagegen feierte die Französische Revolution als Beweis dafür, dass der Schwache auch einmal den Starken besiegen könne. "Und die Menschen sahn entsetzt, verwundert / Dieses unbegreifliche Gesicht: / Daß getroffner Amboß jäh sich hob / Und in die Erde stampfend schlug die Hämmer, / Daß mit Zähnen packte eins der Lämmer / Und das Wölferudel blutend stob", wie es in dem Herbst 1933 geschriebenen Gedicht "Bildnis Robespierres" heißt. Die in diesem Gedicht noch vorherrschende Trauer darüber, dass die in Robespierre verkörperte Gerechtigkeit nach 1933 weiter denn je entfernt war, verwandelte Kolmar in dem Gedichtzyklus von 1934 in die erlösende Beschwörung der einmal geglückten Empörung der Schwachen. "Ich will dich rühren mit den Händen, / Ich will dich scharren aus der Gruft. / Steig auf! Du darfst, du darfst nicht enden", rief die Dichterin Robespierre an. Dieser ist die Zentralfigur der von Kolmar beschworenen revolutionären Dreifaltigkeit, zu der noch Marat und Saint-Just gehören. Diese drei sind ihr die Garanten, dass die Tyrannei der Starken nicht immer siegreich sein würde. Sie gehören in die Traditionsreihe der "großen Puritaner", die Kolmar immer wieder feierte: von Moses über Savonarola und Milton bis zu jenen Jakobinern, die bereit waren, ihr Leben für die "Gerechtigkeit" und "Wahrheit" zu opfern.

Der Rigorismus dieser Helden faszinierte die Dichterin. In einem Essay über Robespierre, den Kolmar 1933 schrieb, offenbarte sie, was an dem Revolutionär so anziehend war: "Eine unerbittlich strenge Vernunft, eine harte, fast bittere Menschenliebe, eine unbeugsame Gerechtigkeit. Da wird kein Strohfeuer angefacht, um wilderes Lodern vorzutäuschen, da werden nicht nach dem guten alten Realpolitiker-Opportunistenbrauch die einstigen Grundsätze, früheren Lehren des Redners bedenkenlos mitverbrannt, wenn das die Umstände fordern." "Robespierre lehrte gründlich und streng, beherrschte durchaus sein Fach; freilich, die Schlafmützen und die Verspielten hatten da nichts zu lachen [...] Ich denke oft, daß ich unter ihm gern Beamter geworden wäre." "Robespierre war der Gerechte, der Reine, der all das Unreine, Ungerechte als der Menschheit nicht zugehörig betrachtet und, wo er es findet, es ausrotten will wie Unkraut aus einem Beet. Eine Biographie nennt ihn 'kindlich'. Das Wort trifft in diesem zu: Kinder verlangen, daß man 'die bösen Menschen' 'einsperren' oder 'tothauen' solle. Wenn sie erwachsen, werden sie lau, kommen vom Unbedingten zum Verhältnismäßigen. Er kam dahin nicht, hat innerlich nie Kompromisse geschlossen."

Die Gewalttätigkeit der Revolution irritierte Kolmar nicht. Der ganze Zyklus kann als Apologie der Gewalt gelesen werden, die im Zeichen der Gerechtigkeit geschieht. Für die Dichterin wurde das in Robespierre personifizierte "Selbstopfer, das zugleich ein Mord ist" (so nannte es einmal Marion Brandt) in den frühen 1930er Jahren eine Möglichkeit, die Ohnmacht angesichts der tödlichen Gefahr, der sie als Jüdin im Dritten Reich ausgesetzt war, wenigstens poetisch in Macht zu verwandeln. Es ist auffällig, dass Kolmar, die aus einem apolitischen, assimilierten jüdischen Elternhaus stammte, 1933 erstmals "Wir Juden" sagte. Vorher hatte das Judentum für sie kaum Bedeutung; in den frühen Gedichten ist "die Jüdin" nur eine Außenseiterin unter anderen. Noch Mitte der 1930er Jahre ist sie auffällig unsicher in der Beschreibung jüdischer Rituale. Als "Einsame" (so ein Gedichttitel) selbst eine Außenseiterin - "niemals die 'Eine' (...), immer die 'Andere'" nannte sie sich einmal in einem Brief - entwickelte Kolmar ein feines Gespür für Gewaltverhältnisse, die sich gegen das Andere überhaupt richten.

Die allgegenwärtige Gewalt beschrieb sie 1927 noch so: "Die goldenen Keulen werken Tag und Nacht. / Sie geben nicht Ruhe: alles wird totgeschlagen. / Der hört den Bumm, der einsam im Düster sitzt, / Und hört das Rollen der ewigen Leichenwagen. / Und sieht das Schreien, das an sein Fenster spritzt / [...] So kläglich verurteilt stirbt Weinen, so strafbar wird Fluchen; / Der Keulen sauberer Fleiß ist, der recht behält".

Mit dem Jahr 1933 gewann die alltägliche Gewalt eine neue Qualität. Das Anderssein wird von Staats wegen definiert, vor allem als "jüdisch". In dem Gedicht "Anno domini 1933" wird nicht mehr abstrakt "alles" totgeschlagen, hört man nicht mehr das unbestimmte "Schreien" und "Weinen" anonymer und "ewiger" Opfer, sondern "an einer Straßenecke" im "dritten christlich-deutschen Reich" wird ein bärtiger Mann mit den Worten erschlagen: "Schluck selbst den Unflat, den du braust! / Du putzt dich auf als Jesus Christ / Und bist ein Jud und Kommunist. / Du krumme Nase, Levi, Saul, / Hier, nimm den Blutzins und halt's Maul!"

Gegen die Infamie, dass die Starken die Schwachen knechten und totschlagen, begehrt Kolmars Robespierre auf. Er macht sich zum "Richter" über die Starken, er erscheint als Personifikation der Gerechtigkeit selbst. Eine "schmale weiße Binde" trägt der richtende Robespierre über den Augen. Alle "Menschlichkeit" ist von ihm abgestreift, was in dem Gedichtzyklus kein Makel ist. Im Gegenteil: Danton war menschlich im spießigen Sinn ("Ich gab... ich nahm... ich nahm..."), Robespierre aber sprach stets sein "heilig: Unbedingt! [...] dies schmerzende: Du mußt!" Erst als er selbst menschlich wurde, als ihn die Macht für einen Moment zur Eitelkeit verführt hatte, wusste Robespierre, "daß er selber sich entrechtet" hatte: "Der Balken seiner Waage hing zerstört. / Er hielt des Schwertes Scherbe in der Hand. / Von seinen kahlen Augen fiel das Band / [...] Er schaute alles. Nein. Er sah nichts mehr. / Er wankte irr, erblindend durch die Gassen".

Rein wird der Revolutionär nach seinem Sündenfall nur wieder durch das Selbstopfer. Das wird auch deutlich in einem Schauspiel, das die Dichterin zwischen November 1934 und März 1935 über jenes Thema schrieb. In "Cécile Renault" opfert Robespierre sowohl seine Anhänger Cécile und Julien, die ihn vergotteten, als auch sich selbst um dieser Reinheit willen: "Ich kann sie nicht schützen. Ich rettete meine Mörderin und wäre heilig. [...] Den Märtyrern gleich, die in Löwenpranken, an brennenden Pfählen starben. Sie fassten Himmel, sie kosteten die Freuden der Engel. Ihre Qualen schmerzten sie kaum. Ich hoffe. Auf Gerechtigkeit, wenn nicht auf Gnade... Aber ich kann das Gute nicht tun, wie der Wucherer leiht: um hoher Zinsen willen. [...] Nun bin ich allein. Allein... Nun habe ich alles zum Opfer gebracht. Auch mein Andenken bei der Nachwelt."

Dieses Schauspiel ist erstmals in dem kürzlich publizierten Band mit den dramatischen Arbeiten Kolmars gedruckt worden. Die Herausgeberin Regina Nörtemann weist darauf hin, dass das dramatische Werk wohl vor allem wegen der überragenden Qualität der Lyrik Kolmars noch nicht die Aufmerksamkeit erhielt, die es verdient. Das Robespierre-Drama "Cécile Renault" hält den Vergleich mit Romain Rollands "Danton" (welcher der Dichterin Anregungen lieferten) auf jeden Fall aus. Es ist auch in Hinblick auf die Lyrik von besonderer Bedeutung, denn Kolmar reflektiert in dem Schauspiel die hagiografische Verehrung Robespierres, die ihren gleichnamigen Gedichtzyklus grundiert. Freilich wird Robespierre dadurch, dass er sich gegen seine Verehrung sperrt, noch verehrungswürdiger. Und in der Grundhaltung unterscheidet sich das Stück letztlich nicht von dem Gedichtzyklus. Die oben genannten Formulierungen aus dem Gedicht "Bildnis Robespierres" tauchen auch in dem Stück wieder auf. Über Robespierre wird gesagt: "Er ist unsere Zuversicht, und eure Seligen stehen ihm nach. Er ist das Lamm, zum ersten Male, das die Wölfe in Fetzen reisst. Er ist der Amboss, zum ersten Male, der die Hämmer in Grund stampft. Und er ist zum ersten Mal der Gerechte, der den Ungerechten zerbricht." Der Gefeierte begreift sich selbst so: "Ich bin die Rache der Waffenlosen. Ich bin der Störer alles Bequemen, die Zuchtrute der Verzogenen, ich bin der Alpdruck der Bösen."

Weder in der Lyrik noch im Drama verfolgte Kolmar diese Themen nach 1935 weiter. In den Gedichten von 1937 hat sie sich von explizit politischen Themen wieder abgewandt. In einem Brief vom 1. Oktober 1939 schreibt sie: "ich habe mich inzwischen immer tiefer in das Bleibende, das Seiende, das Ewigkeitsgeschehen zurückgezogen (dies Ewigkeitsgeschehen braucht nicht nur 'Religion', es kann auch 'Natur', kann auch 'Liebe' heißen); von dort aus sehe ich die Zeitereignisse fast wie die Bilder eines Kaleidoskops". Dies macht sich vor allem sprachlich bemerkbar, etwa in dem hymnischen Ton des letzten lyrischen Zyklus' "Welten" oder in dem hohen Tragödienton der "dramatischen Legende" "Nacht", ein Tiberius-Drama, das zwischen März und Juni 1938 entstanden ist.

Ganz im Gegensatz zu diesen Texten steht Kolmars drittes, sehr kurzes Drama: "Möblierte Dame (mit Küchenbenutzung) gegen Haushaltshilfe", geschrieben 1939. Es ist ein hochkomischer Monolog, in dem Kolmar eine faule, gefräßige und geschwätzige Haushaltshilfe porträtiert. Es ist eine wichtige Ergänzung des ansonsten kaum von Witz oder Humor gekennzeichneten Werks der Autorin. Neben den vier "Scherzgedichten", die Nörtemann in den Anhang ihrer Ausgabe verbannte, ist diese kleine Farce das einzige Zeugnis der "unernsten Gertrud Kolmar, die auch an der Oberfläche operieren, die schalkhaft, witzig und böse sein konnte und - trotz oder wegen der tragischen Umstände - sich den Sinn für groteske Situationen bewahrte", schreibt die Herausgeberin.

Sowohl die Dramen als auch das lyrische Werk Kolmars sind in den vorliegenden Bänden erstmals kommentiert worden. Manche Bedeutungsfacette der Texte erschließt sich erst durch den Kommentar. "Nein, das ist keine Rose", beginnt das Sonett "Die Rose des Kondors"; das "Nein" bezieht sich auf einen Werbetext von 1926, wie uns der Kommentar nahelegt. Erst dessen Kenntnis erlaubt es uns, die merkwürdige Dialektik dieser Verneinung wahrzunehmen: das Nein zur Zweckmäßigkeit der Schönheit, die der Werbetext behauptet, als Bejahung des vorgeblich Verneinten zu lesen, nämlich die Identifizierung des hässlichen Gurgellappens des Kondors mit der "schönsten Rose" zu akzeptieren. Wer Kolmars Gedichte kennt, weiß, dass das Hässliche bei ihr oft die wahre Schönheit ist oder die schöne Wahrheit birgt wie das Haupt der Kröte den Edelstein. Nörtemanns Kommentar aber erlaubt uns außerdem zu erkennen, warum dieses Gedicht implizit auch ein "poetologischer Text" ist, "der in der Auseinandersetzung mit der Trivialität der Alltags- und Reklamesprache, die das Schöne gefangenhält, das Dämonische einsetzt, damit Gegenstände und Lebewesen zu sich kommen oder bei sich bleiben können".

Der zuletzt zitierte Satz stammt aus dem Nachwort der Gedichte-Ausgabe; im Stellenkommentar selbst vermeidet Nörtemann jeden auch nur im Entferntesten als interpretatorisch verstehbaren Hinweis: ein Prinzip, das grundsätzlich richtig ist, hier aber gelegentlich zu weit getrieben wird. Dass die Familie Chodziesner offenbar Rosen bei der Firma "W. Kordes' Söhne" bezog und dass die Tochter des Hauses den Katalog der Firma zur Hand hatte, als sie 1927 oder 1928 den Zyklus "Bild der Rose" schrieb, hätte nicht nur im Nachwort erwähnt werden sollen, sondern gehört schon in den Stellenkommentar.

Besonders ausführlich ist der Kommentar in dem Dramenband. Durch den Abdruck ausgewählter Passagen der Hauptquelle für "Cécile Renault" wird nachvollziehbar, warum die Herausgeberin das Stück hinsichtlich der Methode der Quellenverwendung an die Seite von Georg Büchners "Danton's Tod" stellt. Kolmar arbeitete in ihrem historischen Drama äußerst eng an den historiografischen Quellen entlang: "Es gibt in dem Stück kaum einen Ausspruch Robespierres, der sich nicht in seinen Reden - zu einem nicht unbeträchtlichen Teil wortwörtlich - wiederfinden ließe." Im Kommentar werden die entsprechenden Passagen zitiert. Anders als bei "Cécile Renault" werden im Kommentar zu "Nacht" die angespielten Passagen aus den Werken von Sueton und Tacitus zwar genannt, aber nicht zitiert, was man bedauern kann; allerdings sind diese Texte leichter zugänglich als die historiografischen Quellen zur Französischen Revolution aus den 1920er Jahren. Insgesamt sind Nörtemanns Kommentare ein hervorragendes Arbeitsinstrument, so wie beide Editionen wunderbare, sorgfältig lektorierte und schön gemachte kritische Studienausgaben sind.


Titelbild

Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. 3 Bände.
Herausgegeben von Regina Nörtemann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
1232 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3892444994

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Titelbild

Gertrud Kolmar: Die Dramen.
Herausgegeben von Regina Nörtemann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
296 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3892448221

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