Dichtungen aus einer "vor Wahnsinn knallenden Zeit"

Das Gesamtwerk Georg Heyms bei Zweitausendeins

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehr als ein halbes Jahrhundert musste vergehen, ehe das Werk des frühexpressionistischen Dichters Georg Heym erschlossen werden konnte. Erst nachdem die Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek 1955 den Nachlass erworben hatte, war an eine Gesamtausgabe überhaupt zu denken. 1960 bis 1968 erschien die vierbändige, von Karl Ludwig Schneider herausgegebene, erste kritische Ausgabe der "Dichtungen und Schriften", und damit konnte - ergänzt durch die textgenetische Gesamtedition der "Gedichte 1910-1912" von 1993 - die auf eine solide philologische Grundlage gestellte Forschung erst richtig beginnen. Heym, der im Januar 1912 mit erst 24 Jahren auf dem Eis der Havel eingebrochen und ertrunken war, hatte selbst nur den ersten und einzigen von ihm selbst zusammengestellten Lyrikband "Der ewige Tag" 1911 herausbringen können, sein Novellenband "Der Dieb" erschien postum 1913, und nur zwei weitere Auswahlsammlungen mit Gedichten aus dem Nachlass - "Umbra vitae" mit 23 nachgelassenen Gedichten und "Der Himmel Trauerspiel" mit 50 bis dahin unveröffentlichten Gedichten - konnten seine Freunde 1912 und 1922 herausbringen.

Der Verlag Zweitausendeins, der die großen Dichter des 20. Jahrhunderts zu einem spottbilligen Preis in dickleibigen Broschur-Ausgaben herausbringt, legt jetzt erstmals sämtliche Prosawerke, Dramen und Gedichte sowie alle erhaltenen Tagebuchaufzeichnungen Georg Heyms in einem Band vor. Die erste Auflage musste allerdings wegen zu vieler Fehler wieder zurückgerufen werden, doch die inzwischen verbesserte Auflage soll nun in Ordnung sein. Stichproben in einzelnen Gattungs- und Werkbereichen bestätigen dies.

Heyms Tagebuchaufzeichnungen verraten, dass sein kurzes Leben von früh an von Aufbegehren gekennzeichnet war. Aufbegehren gegen die Institution Schule, gegen das Elternhaus, gegen eine starre Gesellschaftsordnung des wilhelminischen Deutschland, durch die er sich geknebelt sah und der er sich nur durch Fluchtphantasien, theatralische Selbstmordandrohungen und Prophezeiungen glaubte entziehen zu können.

Bezeichnend war für Heym, dass er wohl wusste, was er nicht wollte - nämlich die ihn einschnürende Enge einer bürgerlichen Existenz. Wohin ihn aber der Weg führen sollte, wusste er nicht. Immer wieder klagte er im Tagebuch über eine in ihm wohnende Krankheit, eine Melancholie, die er auf den Mangel an Erlebnissen zurückführte. "Ich aber, der Mann der Dinge, ich ein zerrissenes Meer, ich immer im Sturm, ich der Spiegel des Außen, ebenso wild und chaotisch wie die Welt, ich leider so geschaffen, dass ich ein ungeheures, begeistertes Publikum brauche, um glücklich zu sein, krank genug, um mir nie selbst genug zu sein, ich wäre mit einem Male gesund, ein Gott, erlöst, wenn ich [...]die Menschen herumrennen sähe mit angstzerfetzten Gesichtern, wenn das Volk aufgestanden wäre, und eine Straße hell wäre von Pieken, Säbeln, begeisterten Gesichtern und aufgerissenen Hemden".

Heym inszenierte für sich in Gedanken die Revolution, und solche Ersatzrevolution war wohl auch die literarische Revolte, an der er mitschrieb, unterstützt von seinen Freunden im "Neuen Club". Er suchte in seinen Fragment gebliebenen Dramen und in seinen Gedichten nach lebensgesättigten Gestalten, nach Figuren voller Lebenskraft und fand sie in Revolutionären (Spartacus, Catilina) oder Renaissancemenschen. Durch viele seiner Texte scheint eine Faszination für Revolution und Krieg als Ereignisse elementarer Natur durch.

Heyms Radikalität und seine oppositionelle Haltung zur zeitgenössischen "toten" Zeit äußerte sich weniger in der Dichtungsform - die ist eher traditionell, formenstreng und formenarm - als in der Zertrümmerung eines harmonisch-idealistischen Menschenbilds wie in der Zersetzung der idyllischen Landschaft. Er entlarvte beides als Lüge und stellte ihnen seine von Verzweiflung und Wahn gekennzeichneten, in sich zerrissenen Gestalten bzw. die dämonischen, von Spannungen wilder Unruhe oder eisiger Leere erfüllten Landschaften gegenüber.

Ein Beispiel ist sein berühmtes Gedicht "Ophelia". An die Stelle romantischer Verklärung in dem von ihm geliebten Ophélie-Gedicht Rimbauds setzt Heym trotzig und böse den Zustand der Verwesung einer Wasserleiche, wie er ihn auch in dem Gedicht "Die Tote im Wasser" dargestellt hat. Stefan George war Heym Herausforderung durch die Ästhetik des Hässlichen. Er opponiert gegen eine Dichtungstradition, die durch erlesene Schönheit auch Leid und Unglück noch rührend verklärt. Die Wahrnehmungen wechseln ständig; es verändert sich die Uferlandschaft und, in verborgener Übereinstimmung, der Zustand der treibenden Toten. Im Unterschied zu Rimbaud wird auch die moderne Welt, das Maschinenzeitalter, einbezogen. Natur aber zeigt im Schrecklichen der Verwesung Dauer und Ewigkeit, Frieden und Befreiung von Qual und Schmerz. Sie zeigt auch die Teilnahme, die Ophelia in der Menschenwelt versagt blieb.

Der Titel des Nachlassbands "Umbra vitae" scheint charakteristischer für den Dichter zu sein als der missverständliche Titel "Der ewige Tag" seines ersten Gedichtbands. Den "Schatten des Lebens", ob es nun der Schatten des Todes oder die Schattenhaftigkeit des Daseins war, hat er in beiden Gedichtbüchern immer wieder in düsteren, verzweifelten oder grotesken Visionen dargestellt. Im Titelgedicht "Umbra vitae" werden Bilder verschiedener Herkunft simultan zu einer Deutung des Lebens unter der Last des Todes zusammengeschlossen. Prall von Anschaulichkeit und Gegenständlichkeit bieten sich diese Schreckensphantasien dar und bestärken in Form eines bis dahin unerhörten lyrischen Primitivismus den Eindruck des Gewaltsamen, mit dem Heym sozusagen in die Vorkriegslyrik einbrach.

Aus der Perspektive des in der Landschaft Stehenden entdeckt sich dem aus der Provinz gekommenen Dichter das Problem der Großstadt und der modernen Welt. Die Metropole Berlin fasziniert und bedroht ihn, zieht ihn an und stößt ihn gleichzeitig wieder ab, wird ihm zu einem undurchschaubaren Ineinander widerstrebender Kräfte, das als Dämonie schon in den frühen Berlin-Gedichten aus dem Frühjahr 1910 greifbar wird.

Heym erschafft in seiner Lyrik eine eigentümliche halluzinatorische Zwischenwelt: die als ein dämonisch, vexatorisch, als ein beängstigend, visionär Geschautes und Erfahrbares beschrieben wird. Das trifft genau ins Zentrum expressionistischer Welterfahrung und Seelenstimmung: Dem Dichter gelingt der Durchbruch zum Düster-Unheimlichen des Lebens, zum bild-imaginativen Verfahren, zur sinndurchwalteten Zusammenhanglosigkeit des Gedichts. Der Einzelne ist aus der gesellschaftlichen Geborgenheit herausgetreten, die für ihn nicht mehr existiert. Das Leiden der Einsamkeit kann durch nichts als die Gemeinschaft des Schmerzes noch aufgehoben werden. Diese Haltung des Widerspruchs und Untergangs hat der Dichter auch selbst gelebt. Die wenigen Ich-Gedichte unterscheiden sich in den Bildern in nichts von den Weltklagen und Todesvisionen.

In dem Gedicht "Der Blinde" wird der Himmel als ungeschaute Farbenwelt und Weite den "toten Augen", dem "Paar von weißen Knöpfen" gegenübergestellt, mit dem Schluss: "Der Himmel taucht in das erloschene Licht / Und spiegelt in dem bleiernen Opal". Repräsentiert bei Heym die Farbe Schwarz Totes und Todesgrauen, Weiß Schrecken und Entsetzen, Rot Drohung und Gewalt des Unterganges, Gelb Unheil und Angst, Grün Leere, Kälte und subjektfreie Ruhe und schließlich Blau ein Positives, das ins Negative umschlägt, so werden die Farben zu subjektiven Metaphern für Affekte, die ihrerseits nur Varianten eines negativen Grundaffekts - absolutes Grauen - sind. Damit verwandelt sich der "farbige Abglanz" des Lebens in der Farbensprache der Lyrik Heyms in den Reflex des Leidens am entstellten Leben.

Der Dichter hat viele seiner Träume in seinen Tagebüchern aufgezeichnet. Diese Träume kehren bisweilen in seinen Werken wieder, in der Übernahme von traumhaft erlebten Sequenzen Heyms oder in der eigentümlich visionären Bildhaftigkeit der Sprache in den Erzählungen. Er hat eine Vorliebe für spezielle Menschentypen, für Verkörperungen einer schwachen, reduzierten oder deformierten Existenz, für Irre, Blinde, Taube, Krüppel, Todkranke und Tote, für Gefangene, Gewalttäter und Außenseiter.

"Irresein" erscheint als Signum einer beschädigten Psyche, Wahrnehmungskraft, Intelligenz und Moral des Menschen in seiner gesellschaftlichen Existenz, der pathogenen Verhältnisse von Familie, Großstadt und Gesellschaft um 1910. Als Protagonist des Geschehens übernimmt der "Irre" in der Titelgeschichte des 1912 herausgekommenen Erzählungsbands Funktionen für die expressive Steigerung einer allgemeinen Zeiterfahrung, als Opfer und Täter wird er auch zum Sinnbild einer absurden, sinnlosen Konstellation des Tausches von Gewalttätigkeiten. "Jonathan", eine andere Erzählung, schlägt das Thema der Hoffnungslosigkeit an, das in der "entsetzlichen Einsamkeit" des ersten Satzes anklingt und im "schrecklichen Dunkel" des letzten Satzes tonlos ausschwingt. Die hier vorgestellte Vision vom "Aufstand der Schmerzen" ist ein Musterbeispiel expressionistischer Metaphorik in der Prosa: Das Bild des über dem Hause jagenden Todes, die Vorstellung einer höllischen Messe, die zur Feier der diabolischen Macht des Todes veranstaltet wird.

Dass die Dichtung Heyms in der nachfolgenden expressionistischen Lyrik Schule machte, deren Thematik und dichterische Verfahrensweise bestimmte, lag vor allem darin, dass sich ihre visionäre Bilderwelt zu einer einheitlichen dichterischen Welthaltung zusammenschließt, in der sich bestimmte Grundmotive der expressionistischen Dichtung exemplarisch ausprägen. Dass er in seinen "schwarzen Visionen" die Katastrophen des 20. Jahrhunderts prophetisch vorausgesagt habe, ist von der Heym-Forschung nicht bestätigt worden. Aber mit der Herausbildung einer neuen Bilder- und Chiffrensprache als Ausdruck für sein modernes Lebensgefühl hat er Furore gemacht.

Titelbild

Georg Heym: Das Werk. Lyrik, Dramen, Prosa, Tagebücher. 2., überarbeitete, korrigierte Auflage.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Monika Weißenberger.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2005.
1372 Seiten, 7,99 EUR.
ISBN-10: 3861507366

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