Familienbild ohne Damen

Thomas Langs Roman "Am Seil" handelt von der Bodenlosigkeit einer Vater-Sohn-Beziehung

Von Laura WilfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Wilfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie hängen doch schon lange in der Luft. Alle beide. Bert und Gert. Vater und Sohn. Lange bevor man sie in der heimatlichen Scheune an ihrem umständlich errichteten Doppelgalgen baumeln sieht. Tatsächlich erspart uns Thomas Lang dieses letzte Bild seines eindrucksvollen Familienporträts. Mit einer ersten und letzten annäherungsweise vertrauensvollen Geste zwischen den beiden endet der Roman. "Komm, Vater", sagt Gert zu Bert.

Es ist übrigens ein Familienbild ohne Damen, das Thomas Lang hier zeichnet. Eine sechsteilige Folge des perspektivischen Gegeneinanders, geschickt inszeniert zwischen tiefsitzendem familiären Einverständnis und gewohnheitsmäßigem Missverständnis zweier gleichermaßen bodenlos gewordener Existenzen. Nur in einzelnen "Blitzlichtern" tauchen wenige Frauengestalten auf. Zunächst Marlen, die geschiedene Mutter, die sich mit einem resoluten Schritt des ganzen Familiendebakels entledigt hatte. Dann das "Totengesicht" von Felicitas, Gerts jugendlicher Freundin, dessen Erinnerung ihn nicht loslässt: neben sich, "in der absurdesten Lage, kopfunter" in seinem Unfallwagen. Schließlich Bubi, Berts einziger Lichtblick, die vergötterte Pflegeschwester, die ihm zwar tränenreich, aber doch emotionslos ihre Kündigung mitteilt. Sie haben sie hängen lassen, die Frauen, jeden am eigenen Strang. So sieht es aus.

Der ehemalige Sportlehrer Bert hat sich noch ganz gut halten können, erst die körperlichen Gebrechen des Alters scheinen ihn nun langsam zu Boden zu zwingen. Da hat der ungelenke Sohn trotz zeitweiliger Hilfestellungen eine weitaus weniger gute Figur gemacht: Mit der Schuld an dem tödlichen Autounfall und dem Verlust über die Kontrolle des linken Arms ist er dann endgültig abgestürzt.

Abgelebt, könnte man den Zustand nennen, in dem Bert seinen Sohn nach Jahren der Funkstille in der Tür seines Seniorenwohnheimzimmers stehen sieht. Charakteristisch "das Hängende, Schlaffe" an ihm, "die leicht eingeknickten Beine", diese "Hosenscheißerhaltung", die er immer schon verachtete. Funkstille ist außerdem nicht ganz korrekt, hat er doch den beruflichen Aufstieg seines Sohnes im Fernsehen verfolgen können. Allerdings nur so lange, bis ein unrühmlicher Skandal den Moderator von der Bildfläche entfernt und auch die Klatschpresse das Interesse an ihm verloren hat.

Nun steht er also da, im Gegenlicht, einen geklauten Motorradhelm am Arm, unerwartet und auch nicht eigentlich willkommen. Schlecht sieht er aus, denkt der eine vom andern, wider Erwarten etwas erschrocken und irgendwie doch angerührt von diesem Bild, das plötzlich mit dem eigenen Spiegelbild zu verschwimmen droht.

"Die Haut ist grau, die Wangen bammeln als fleischige Läppchen seitlich runter, der Mund sitzt, nun ja, wie ein hässliches Loch im Gesicht, umrahmt von schmalen, farblich kaum von der Haut unterscheidbaren Lippen, die überdies verrunzelt sind wie bei einer alternden Frau." Mit erbarmungsloser Genauigkeit registriert Bert den äußerlichen Verfall seines etwa vierzigjährigen Sohnes, um ihm kurz darauf einen Vortrag über die "Merkmale des Älterwerdens" zu halten und - der alte "Besserwisser" - die niederträchtige Frage anzuschließen: "Urteile selbst: Bin ich alt?" Darauf weiß der dumme Junge wieder nichts zu sagen. Trotz einer heimlichen Gewissheit: "Statistisch gesehen" war der Vater, den er soeben zur Toilette hatte leiten müssen, "nah an der Grenze zum Tod". In dieser Erkenntnis treffen sie sich wieder, und weder der eine noch der andere zeigt sich besonders beeindruckt. Doch eine leise Ahnung beschleicht sie beide, unabhängig voneinander: Kein vorgeschriebener Tod soll es sein, vom roten über den grünen in den blauen Trakt des Seniorenwohnheims, kein organisierter Abgang.

Stattdessen besteigen Vater und Sohn einen Zwilling des Unfallwagens, der auf fast mysteriöse Weise auf dem Parkplatz vor dem Haus auftaucht und über den Gert - im Blick wieder eine Frau, jene, die seinen Vater nun im Stich ließ - quasi "stolpert". Das "unheimliche" Gefährt symbolisiert eine gewisse Komplizenschaft zwischen Gert und Bert. Mit ihm wagen beide, gejagt von der Vision jenes Unfalls, eine Fahrt in die gemeinsame Vergangenheit.

Angekommen auf dem heimatlichen Hof - "Berts Hof, Gerts Hof" und doch ein Ort, an dem "niemand [...] groß werden kann" - scheint die Kulisse schon vorbereitet: Wie in einem Akt des Vandalismus ist alles Grün verschwunden. "Hier wird nie wieder etwas wachsen", konstatiert Gert. In der Scheune inszenieren Vater und Sohn ihren Abschied von der Welt. "Marlen steht dabei und raucht eine."

Letzteres ist eine Assoziation, ein Bild, das am Ende dieser traurigen Familiengeschichte stehen könnte, in der die stets nur "blitzlichtartige" Präsenz der Frauen den Männern den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint. Gleichwohl ist dies nur eine Lesart dieses beeindruckenden Romans: eine quasi "doppelzüngige" Verhaltensstudie, die durch ihre Beschreibungsintensität berührt und damit auf recht unbefangene Weise ein nicht gerade optimistisches Porträt unserer Gesellschaft liefert. Denn wir sehen hier zwei Menschen - einen jüngeren und einen älteren - ihren endgültigen Austritt aus diesem Gemeinwesen vollziehen. Ein Schritt, der fast nicht auffällt, der die Mitmenschen an ihnen wie auch an ihrem früheren Leben sämtlich unbeteiligt zeigt. So "unbeteiligt", wie auch Gert (oder Bert) selbst, in dem kurzen Moment, bevor sie sich dem Seil anvertrauen.


Titelbild

Thomas Lang: Am Seil. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
174 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3406543685

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