In Ulm gibt es Tote

Zu Ulrich Ritzels Krimi "Uferwald"

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berndorf ist wieder unterwegs. Aber nicht zu einem Fall. Berndorf, der Ulmer Kommissar, ist im Ruhestand und fährt. Auf Nimmerwiedersehen: "Auf Gleis 1 des Hauptbahnhofs schlossen sich die Türen des ICE, fast unmerklich setzte sich der Zug in Bewegung, Kriminalkommissarin Tamar Wegenast, eine großgewachsene, schlanke Frau, hob den Arm und winkte. [...] 'Und du glaubst wirklich, dass der jetzt weg ist?' fragte der Mann neben ihr." Nein, ganz weg ist Berndorf nicht. Und in diesem Fall spielt er auch noch einmal eine Rolle. Aber nur in der Erinnerung der Hinterbliebenen.

Aus einer Erinnerung, aus einem Tagebuch kommt der Fall, den Tamar Wegenast und der skeptische Markus Kuttler bearbeiten müssen. Da wird im Oktober 2005 die alte Frau Gossler tot in ihrer Wohnung gefunden. Kein Einzelfall, dass ihr Ableben erst nach Wochen bemerkt wird: Die besorgte schriftliche Nachfrage einer türkischen Familie verschwindet auf dem Bermuda-Schreibtisch einer Sachbearbeiterin. Und entlassen wird am Schluss nicht die Sachbearbeiterin. Der Tod der alten Dame aber ist kein Fall für die Polizei. Nur das, was ihm vorausging, das sind durchaus einige Fälle.

Es begann mit einem Unfall, der sich 1996 ereignete. Da ist ein Obdachloser von einem Großkotz und Großbauern angefahren worden und sitzt seither im Rollstuhl: "Rolli-Rolf". Im Ulmer Obdachlosenheim "Zuflucht" (ob das Satire ist, oder ob die wirklich so heißen, da im Schwäbischen?) lernt er den Jurastudenten Tilman Gossler kennen. Und jetzt schöpft Rolf wieder neue Hoffnung. Ob Tilman, der immer so freundlich zu ihm ist, ihm nicht helfen kann, mit seinen Jurakenntnissen? Nur kurz darauf stirbt Tilman in der Silvesternacht 1999 bei einem Verkehrsunfall. Der Fahrer ist geflohen. Der Fall wurde nie aufgeklärt.

Jetzt wird er wieder aufgerollt. Denn Kuttler findet in der Wohnung der toten Frau ein Tagebuch, das er mitnimmt und liest, neugierig, menschlich interessiert. Tilman war damals Mitglied einer kleinen Clique. Ein aufstrebender Politiker, ein nicht ganz koscherer Bankangestellter, ein politisch ganz Korrekter, eine Lehrerin und zwei weitere Frauen gehörten dazu. Tilman steht ein bisschen am Rand der Gruppe, beobachtet, gehört nie so

richtig dazu, aber er provoziert gerne einmal. In seinem Tagebuch plaudert er alles aus, was damals passiert ist: seine große Liebe Solveig, die versuchte Vergewaltigung der einen Frau, die Homosexualität des Politikers, seine eigenen Kontakte zu "Rolli-Rolf", seine Versuche, ihm zu helfen. Ein paar Seltsamkeiten sind schon auch dabei. Alles durchaus normal in einer Stadt wie Ulm. Nur dass Tilman kurz danach totgefahren wird. Und das ist nicht normal, das wirft auch ein Bild auf alles, was vorausgeht, vor allem auf die Seltsamkeiten. Kuttler ermittelt also. Und stößt in ein Wespennest. Schnell weiten sich die Kreise von der Clique bis in höhere Ebenen. Auch ein Künstler, der Stahlskulpturen macht, und ein betrügerischer Anwalt werden zu Verdächtigen: Aus dem Silvesterunfall ist ein Mord geworden.

Ulrich Ritzel war viele Jahre lang Reporter in Ulm, bis er zum Krimiautor wurde. Er kennt die kleinen Hand-in-Hand-Geschäfte einer Stadt, in der man sich kennt, in der alle irgendwie zusammenhängen, in der jeder von jedem irgendetwas weiß oder ahnt. Wie viel wird hier vertuscht, wie viel Schweigen wird erkauft, wie viel wissen viele und sagen es doch nicht, aus Angst, aus Eigennutz, aus Scham.

Diese Verflechtungen im Kleinen zu zeigen, in einer ganz normalen Stadt wie Ulm, das kann Ritzel sehr gut. Es geht bei ihm nicht um Weltpolitik, sondern um die alltäglichen Schweinereien, durch die, in der, mit der die Stadtpolitik überall lebt. In seinem ruhigen, oft literarischen Stil erzählt Ritzel von den vielen Verschwiegenheiten, die bald zu Lügen werden, von der Neugier und dem kleinen Verrat, von der Liebe und den Abhängigkeiten, in denen alle stecken. Er erschafft ein komplexes Bild einer Stadt, die wir alle zu kennen glauben oder in anderen Städten wiedererkennen. Das darf doch nicht wahr sein, denken wir. Aber es ist so. Da wird der Tod von so manchem in Kauf genommen. Nein, kein Mord. Aber wenn er bei dem Unfall stirbt, umso besser: So geht das im "normalen" Hirn zu. Und da gehört auch die lebendig und detailliert geschilderte Clique dazu, die von Möchtegernaußenseitern zu schön angepassten Spießern mutiert ist, die wirklich nicht mehr gerne an früher erinnert werden möchten. Und deshalb gleich ein paar neue Lügen auftischt.

Leider verheddert sich Ritzel in seinem "Uferwald" ein wenig; es entgleiten ihm die Erzählfäden an manchen Stellen. Solche Wiederholungen und unnötige Redundanzen gab es früher bei ihm nicht. Ein wenig scheint ihm die sonst so wohltuende Leichtigkeit zu fehlen, die seine anderen Romane, neben den ironischen Tönen und den literarischen Anspielungen, ausgezeichnet hat. Immerhin ist er immer noch so spitz und spöttisch wie früher, wie er in manchen Unterhaltungen und dem schönen, wenngleich für die Handlung nutzlosen Intermezzo mit den Bankräubern zeigt. Aber vielleicht hätte er Berndorf doch nicht nach Berlin fahren lassen sollen?


Titelbild

Ulrich Ritzel: Uferwald. Roman.
btb Verlag, München 2006.
384 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3442751446

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