Klaugschieters Endlosschleife

Michael Terpitz ist der perfekte Schallplattensammler

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Finis negans: „Finnegans Wake“, einer der berühmtesten Romane der modernen Literatur, beginnt und endet mitten im Satz, und lässt man Anfang und Ende des Buchs ineinanderlaufen, so erhält man ein vollständiges Syntagma – verbunden mit der impliziten Aufforderung, am Schluss wieder nach vorn zu blättern und weiterzulesen.

Eine ähnliche Konstruktion muss dem Rostocker Schallplattensammler Michael Terpitz (alias Andreas Buhse) vorgeschwebt haben, als er seinen Roman „Rauch auf dem Wasser“ (nach dem Hardrock-Klassiker „Smoke On The Water“) konzipierte, denn das erste und letzte Wort seines Romans lautet „Schiet!“ Das ist mecklenburger Platt, als freundliche Variante des hochdeutschen „Scheiße!“ lesbar und als Fluch insofern angebracht, als Jimi, der Protagonist des Romans, gerade die Wende verschlafen hat. Zwar lässt Jimi den Fernseher laufen, als „SED-Messias“ Günter Schabowski in der legendären Pressekonferenz vom 9. November 1989 die sofortige Öffnung der Staatsgrenzen der DDR verkündet – doch Jimi hat „keinen Bock“ auf „Parteigesülze“ und dreht den Ton ab. Er hört stattdessen Led Zeppelin, die Lieblingsplatte seiner Frau Josie, die gerade ihren Doktor gemacht hat. Statt vor dem Bildschirm eines sowjetischen „Raduga“ zu hocken, feiern Jimi und Josie in dieser historisch denkwürdigen Nacht ihren zehnten Hochzeitstag, und so erfahren sie erst am nächsten Morgen vom Fall der Mauer: „Schiet!“

Jimi ist ein strikt unpolitischer Bürger der DDR:

„Mir war der Sozialismus an sich – ob nun demokratisch oder nicht – ziemlich egal, solange er mich in Ruhe ließ, und das tat er weitestgehend. Der Sozialismus und ich, wir hatten uns arrangiert – ‚friedliche Koexistenz‘ nannte man das wohl.“

Er hat zwar für jede seiner Schallplatten eine eigene „Kaderakte“ angelegt – wann und für wieviel erworben, Zustand am Tag der Anschaffung, aktueller Zustand, Zeitwert, Genre usw. –, doch sein eigener Kaderentwicklungsplan interessiert ihn nicht die Bohne: Er will im Sozialismus nichts werden, er ist weder „Genosse“ noch überhaupt politisch interessiert oder engagiert: „Die Revolution ist unmusikalisch“, glaubt er mit Helmut Salzinger, und so engagiert sich Jimi allein für die Musik. Seine Leidenschaft für die schwarze Vinylscheibe dominiert sein Dasein, seit er mit „Tipitipitipso“ seine erste „Westschallplatte“ in Händen hielt.

West-LPs sind zu DDR-Zeiten unschätzbare Valuta, und so ist der Schallplattensammler bald auch als Schallplattenhändler dick im Geschäft. Das Tausch- und Rauschmittel West-LP bringt ihm die ersehnte Kühltruhe ein, erweckt den krebskranken Klaus zu neuem Leben und fungiert – ähnlich wie Prousts „Madelaine“ – als Auslöser seiner Erinnerungsarbeit. Denn der Roman „Rauch auf dem Wasser“ (by the way: Müsste es nicht heißen „Rauch über dem Wasser“?) erzählt eine DDR-Biografie am Leitfaden der Schallplattensucht seines Protagonisten.

Das Universum seiner Rede kennt dabei nur wenige Fixsterne: Neben Josie und dem „Vinyleck“, dem Warnemünder Plattenladen, sind dies die Freunde und Tauschpartner sowie die Mitglieder der „Rolling-Schieter-Band“, mit der Jimi alias „Schieter“ („Scheißer“) wochenends Konzerte gibt. Doch da hinter diesem Buch eine echte Leidenschaft spürbar wird und sein Autor ein Lebens- und Überlebenskünstler zu sein scheint, der seiner „Wunderdroge“ Musik viel Witz abzugewinnen weiß, liest sich seine sympathische Realsatire lustvoll: Sie hat „Klasse“, auch wenn Jimi mitunter als nerviger „Klaugschieter“ („Klugscheißer“) erscheint, etwa wenn er hemmungslos sein Spezialwissen über Auslandspressungen, seltene Labels, unmögliche Besetzungen, Tauschtarife und dergleichen absondert. Seine Einblicke in die Lebenswelt des „Pseudosozialismus“ der DDR sind nichts weniger als lehrreich – und oftmals köstlich noch dazu: Da wird von Janek erzählt, der seinen Job verliert, weil er beim Simultanübersetzen schon des öfteren eingeschlafen ist, oder vom ehemaligen Kaderleiter Erwin Bumerang, der im Kapitalismus pleite geht und sich die DDR zurückwünscht.

Die DDR hat Konjunktur: Autoren wie Erich Loest setzen den Aufständischen vom 17. Juni 1953 ein „Denkmal“ (in „Sommergewitter“), Regisseure wie Florian Henckel von Donnersmarck arbeiten heraus, dass es auch in der DDR ein „Selbstverwirklichungsmilieu“ gegeben hat („Das Leben der anderen“), und Michael Terpitz belegt, dass die SED-Bonzen nicht nur Dumpfbacken regiert haben.

„Rauch auf dem Wasser“ spürt einem Individualismus in der Geschichte des Kollektivismus nach, der vermutlich kein Randphänomen war – wie sonst hätte es zur friedlichen Revolution von 1989 kommen können? Auch darauf übrigens versucht der Roman eine Antwort zu geben – und bietet dem gesellschaftspolitisch interessierten Leser eine Fülle kluger, einleuchtender und mitunter verblüffender Einsichten, Stichwort „Pragmatiker zu Wendehälsen“.

Dem Buch ist ein Soundtrack beigegeben – Prädikat „hörens- und lesenswert“ –, und das letzte Kapitel firmiert unter „Bonustrack“. Kein Scheiß (Schiet)!

Titelbild

Michael Terpitz: Rauch auf dem Wasser. Der Schallplattensammler. Roman mit Soundtrack.
Ingo Koch Verlag, Rostock 2005.
378 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3938686006

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