Fetthaltiger Magerquark

Salman Rushdie, der Megalomane

Von Jan FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch liegt auf dem Tisch, ziemlich dick. "Shalimar, der Narr" heißt es und ist von Salman Rushdie. Das Cover ist hauptsächlich blau und jemand fegt; hinten schaut ein mittelalter Rushdie ein wenig bärig in die Welt.

Soweit zu den gesicherten Fakten. Mehr lässt sich nicht sicher sagen. Nicht über internationalen islamischen Terror, nicht über komplexe weltpolitische Verwicklungen. Schon gar nicht über Kaschmir, schon gar nicht, wenn man beim Gedanken daran eine solche Trauer im Herzen trägt wie Rushdie. Kaschmir war mal ein Paradies, bevor zwischen Indien und Pakistan Ende der 1940er territoriale Verwicklungen begannen und Kashmir mittendrin steckte. Schrecklich, das, vor allem für Rushdies gefühlte 1.500 Nebenfiguren im Dorf der Schauspieler und Köche, die nichts lieber wollen als in ihrem Paradies lustig rumzuturnen. Vor der Teilung war es im Paradies nicht so wichtig, dass die eine Hälfte Muslime waren und die andere Hälfte Hindi. Es gab ja Boonyi, die Tänzerin und Shalimar, den Narren, den superguten Seiltänzer. Das bireligöse Liebespaar: selbstverständlich ein Symbol.

Aber der Apfel der Erkenntnis ist bitter: Da passieren viele Dinge gleichzeitig. Ein Krieg beginnt. Kashmir wird in eine pakistanische und eine indische Hälfte geteilt. Das Dorf der Schauspieler und Köche liegt direkt an der Line of Control, wo die Gebietsansprüche mit Militäraufgebot aufeinanderprallen. Es ist plötzlich wichtig, wer welcher Religion angehört. Islamische Hassprediger ziehen durchs Land, die Dorfseherin sieht nur noch Unglück, und Boonyi, stets abenteuerlustig, lässt sich lieber mit dem amerikanischen Botschafter Max Ohpuls ein, Held der Résistance, sowie einer der Frauen. Und Shalimar ist sauer.

Aber so fängt Rushdie nicht an. Nein, der Einstieg geht so: Max Ophuls besucht seine Tochter India im Los Angeles der Jetztzeit. India heißt eigentlich Kaschmira und ihre Mutter ist Boonyi. Ophuls neuer Bediensteter, Shalimar, der Narr und Ex-Seiltänzer, schneidet ihm die Kehle durch.

Von diesem Punkt aus wickelt Rushdie seine Geschichte ab, diejenige Geschichte Kashmirs seit den frühen 40ern. Die Geschichte des Dorfs der Köche und Schauspieler, die Liebesgeschichte zwischen Shalimar und Boonyi, in die sich jene von Ophuls' Leben und seiner merkwürdigen Beziehung zu Boonyi einfügt. Die irgendwann fett wird und dann auch noch ein Kind bekommt, das sie Kashmira taufen möchte. Ophuls Frau, Margarete tauft es aber lieber India. Ophuls bleibt nicht mehr Botschafter, sondern wird erst mal weltpolitische persona non grata taucht unter und bleibt versteckt, als Leiter der Anti-Terrorabteilung der USA. Er verwandelt sich also von einem Liebhaber Kashmirs zum Handlanger der Ausbeuter.

Shalimar ist sauer und wird, ungeliebt, wie er sich fühlt, lieber eine Art islamfanatischer James Bond und Superterrorist, der auf Rache sinnt, an Boonyi, an Ophuls, bringt sie alle um, während India/Kashmira in Europa und Los Angeles wiederum zu so etwas wie der Verkörperung der Zerissenheit Indiens heranreift und erst nach und nach ihre eigenen Wurzeln entdeckt. Als sie sie begriffen hat, gibt es nur noch eins: Showdown zwischen Shalimar und India/Kashmira. Sie wählt den Bogen.

Erzählt ist dieses, äh, Konglomerat, in unterschiedlichen Stilen. Den Passagen, die in Los Angeles spielen, erspart Rushdie auch nicht Vergleiche wie "klingonisch klingendes Schnarchen" und einen etwas cooleren Stil, dessen Szenen voller Filmanspielungen stecken. Die Passagen, die in Indien spielen, sind angelehnt an traditionelle indische Literatur und Dichtung, das heißt hauptsächlich süßlich und emotional aufgeladen, voller Mythen, Allegorien, Arabesken und ähnlichen Spielereien.

Rusdhie erzeugt emotionale Dauerberieselung. Los Angeles ist nicht einfach nur eine Schlangengrube. Nein, Max Ophuls sucht unter der Stadt nach Echsen, die Höhlen gegraben haben Die ganze Stadt ist von Echsen unterhöhlt, ja, warum auch nicht? Ständig will Rushdie seinen Leser beteiligen, ihn mitreißen; ständig zeichnet er Bilder, die schrecklich sind, oder schön, oder beides gleichzeitig. Das Paradies ist ein Paradies, in dem Bienen summen, ein Bach plätschert, die Wiesen ständig nass vom Tau sind, das Klima stets angenehm, selbst wenn es kalt wird. Die Dörfler respektieren einander, die Religion ist unwichtig, die Politik auch. Das Massaker dagegen ist schrecklich, und Rushdie weiß Kälte auszukosten, weiß reihenweisen Tötungen und Vergewaltigungen noch eine grauenhafte Komponente mehr zu geben, indem er sie aus dem eiskalten Blickwinkel psychologischer Kriegsführung beschreibt.

Seine persönliche psychologische Kriegsführung betreibt Rusdhie am Erzählstrang. Alles wird bis zum allerletzten ausformuliert, es gibt keine grauen Stellen in seinen Figuren, es gibt keine grauen Stellen im Erzählstrang, alles wird erzählt, oder nein: ausgeweidet, emotional wie erzählerisch. Ständig wird man als Leser emotional gefordert, ständig schwappt vollkommene Harmonie in vollkommenes Grauen.

Es kommt vor, dass Rusdhie über all seiner Lust zu beteiligen, über seiner stilistischen Spielerei und Überausformulierung seine Story etwas aus den Augen verliert, zuviel Unwichtiges erzählt. Es ist nicht unbedingt notwendig zu wissen, was Ophuls im Detail in seiner Jugend in der Résistance geschrieben hat. Es ist nicht notwendig, India/Kashmira noch eine Liebesgeschichte anzudichten, deren dramaturgischer Wert sich darauf beschränkt, dass India/Kashmira erzählen kann, dass alles schrecklich ist. Viele Nebenfiguren sind unnötig. Mal ganz abgesehen davon, dass es Rushdie nicht vordergründig darum geht, eine Geschichte zu erzählen. Rushdie betreibt Weltpolitik als Mikrokosmos.

Der Kashmir-Konflikt ist Rushdie, dem Megalomanen, noch nicht groß genug, ist ja auch nur ein kleiner Konflikt, Kashmir nur ein Symptom für die wahren Battles of the Giants: Nazideutschland vs. Résistance, Mudshaheddin vs. Sowjetunion, Fatwah vs. Ruhsdie, USA vs. Nahost, USA vs. Islamischer Terror, inklusive 9/11 und darüber hinaus. Wenn man dann noch Lust hat, kann man auch noch eine Parallele von der Besetzung Kashmirs zu der des Iraks durch die USA ziehen.

Godzilla gegen Mothra. King Kong gegen Mechagodzilla. Mechagodzilla und Biolante gegen Mothra und King Kong etc. Eine bombastische Weltseifenoper, durch die die Figuren da stolpern müssen.

Das alles in ein Buch zwängen, die Frage beantworten zu wollen: Wo sind all die Blumen hin? oder: Wo kommt bloß dieser Terror her? ist natürlich komplett größenwahnsinnig. Rushdie versucht es trotzdem, oder möglicherweise auch gerade deshalb. Größenwahn ist Rushdies Methode. Sicher weiß er, was er tut, diese ganzen politischen Verwicklungen und ästhetischen Kniffe, das kann er schon. Als würde er versuchen, einen gestrandeten Wal zurück ins Meer zu schieben, fügt er greenpeacemäßig den weltpolitischen Konflikten, wie man sie in den Tagesthemen immer so weit entfernt, sieht noch schnell eine emotionale Komponente hinzu, sodass sie, ja, verdammt noch mal, berühren sollen. Das ist ehrenhaft gedacht, gut gemeint und politisch ziemlich korrekt, auch wenn Rushdie verzweifelt versucht, dem Leser begreiflich zu machen, dass Terroristen auch nur Menschen seien. Nur Seiltänzer auf dem falschen Weg.

Dass die Figuren dabei so sehr politisch wie emotional aufgeladen werden, dass sie ausfransen, dass sich über all der Weltpolitik die Story in kleinsten Details verliert - geschenkt. Aber dass Rushdie in seiner Manieriertheit, in seinem Bemühen, stilistisch zu brillieren, in seinem perfektionistischen Größenwahn, in seiner Eitelkeit, in all seinem ganzen Bemühen, soviel Fett wie möglich in sein Weltsoufflé zu buttern, es nicht schafft, eine wenigstens ein bisschen kontroverse oder interessante These zu präsentieren, ist schlicht unverzeihlich. Alles mündet in den westlichen Konsens, dass Terror eine schreckliche Sache ist, auch staatlicher, aber dass man statt wild in der Gegend rumzubefrieden, vielleicht doch lieber alles an der Wurzel anpacken sollte. Und dass die Welt ein komplizierter Ort ist. Und macht so "Shalimar, der Narr" trotz hohem Fettanteil eher zu so etwas wie Magerquark.


Titelbild

Salman Rushdie: Shalimar, der Narr.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
560 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 349805774X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch