Merk- und denkwürdig

Franco Stelzers Debüt in Deutschland

Von Silvia CarmelliniRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silvia Carmellini

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als "humorvoll" darf der Erstlingsroman des Turiner Schriftstellers Franco Stelzer zweifellos gelten. Seine Erzählung "Das erste, merkwürdige, feierliche Weihnachten ohne sie" ist allerdings nicht mit einer seichten Unterhaltungsliteratur zur kuscheligen Winterzeit zu verwechseln. Kaum gelänge es einer solchen, aus einer üblicherweise ach so feierlich familiären Laune einen mit Krankheit, Tod, Liebes- und stinkenden Verdauungsproblemen gespickten Erzählteppich zu weben.

Seinen Faden nimmt der Roman mit Kindheitserinnerungen an eine Wanderung auf, die den Ich-Erzähler eine prekäre Situation hinsichtlich einer unfreiwilligen Digestion erleben lassen. Der Tod der Mutter als das zentrale, aber tatsächlich bis zur letzten Seite unbeschriebene Ereignis einer näheren Vergangenheit drängt sich dabei immer wieder vor den Erinnerungshorizont aus Jugendtagen.

Der Versuch, nach diesem Ereignis gemeinsam mit den Geschwistern die Weihnachtstradition neu zu gestalten und einen vollkommen unitalienischen Truthahn "ohne sie" zuzubereiten, endet in einer tragikomischen Szene, welche die Abwesenheit der Mutter schmerzlich vor Augen führt. Während das leblose und - trotz längeren Bratens - noch rohe Tier plötzlich die nackte Präsenz ihres Todes verkörpert, ist es zugleich Gegenstand grotesker Beobachtung und obszöner Assoziationen. Schließlich entgeht der Vogel seiner geplanten Bestimmung und wird von den Geschwistern in einem Fluss beigesetzt.

Keine Frage, Franco Stelzers Erzählung will zwischen frecher Obszönität, abstoßendem Ekel und nachdenklicher Nostalgie changieren und darf als ein Experiment gelesen werden, Trauer mittels derber Komik zu überwinden.

Eine runde Sache stellt der Roman auf den ersten Blick indes nicht dar, scheinen doch so manche Rückblenden unverbunden nebeneinander zu stehen. So verwundert eine Begebenheit, bei welcher ein Verwandter darum wettet, eine Ratte verspeisen zu können ebenso, wie Episoden zu Masturbationsexperimenten. Fragen kommen auch in Bezug auf einige Kapitel auf, welche die Erzählperspektive der Ratten einnehmen.

Das bruchstückhafte Erinnerungsvermögen und die Fantasie des Ich-Erzählers setzen dem Leser ein unfertiges Mosaik vor. Etwas unbeholfen wirkt die Idee, das unsicher Bruchstückhafte zusätzlich syntaktisch zu unterstreichen und viele Sätze in drei Pünktchen auslaufen zu lassen. Vollkommenes Unverständnis rufen jedoch die englischen Titel einiger Kapitel hervor.

Franco Stelzers Roman bietet Einblick in die intime Gedanken- und Erinnerungswelt seiner Erzählfigur und verweist auf den menschlichen Flickenteppich von (un)geliebter Körperlich- und Verletzlichkeit. Über dieser anspruchsvollen Auseinandersetzung kreist allerdings ein uraltes Klischee gegenüber männlichen Italienern: das der unerschütterlichen Mutterliebe. Damit ist wohl zugleich auf die beabsichtigte Leserschaft des Romans verwiesen, welche aber vermutlich nicht mit der derben Wortwahl Stelzers rechnen wird. Auch die grelle, pink-grüne Umschlaggestaltung mit der nostalgischen Schwarzweißfotografie einer eleganten Raucherin dürfte diese Zielgruppe verfehlen.


Titelbild

Franco Stelzer: Das erste, merkwürdige, feierliche Weihnachten ohne sie. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2004.
126 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3803125022

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