Das selbstbestimmte Sterben der 'blauen Dame'

Die französische Autorin Noëlle Châtelet legt mit ihrem autobiografischen Bericht über die letzten Monate ihrer Mutter ein wichtiges Zeugnis zur Diskussion über würdevolles Sterben vor

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die literarischen Werke, in denen Autorinnen und Autoren über das Sterben und den Tod der eigenen Eltern berichten oder dieses Erlebnis literarisch verarbeiten, füllen Regale. In der Regel stehen dabei Krankheit, Verfall des Körpers und des Geistes der sterbenden Person im Fokus der Perspektive. Es sind zuweilen sehr anrührende Fiktionalisierungen, die immer auch das Verhältnis Eltern-Kind aufgreifen und die Rollen, die damit einhergehen, diskursiv durchschreiten.

Anders bei der französischen Autorin Noelle Châtelet, die bereits mit ihren Romanen "Die Dame in Blau" und "Die Klatschmohnfrau" interessante philosophische Beiträge zum Altern und Altsein vorgelegt hat. Für diese Romane standen Erlebnisse mit der eigenen Mutter Pate, woraus sich eine Vision entwickelte, die die Autorin dann literarisch umsetzte: "den Frieden des Alters genießen zu dürfen". In ihrem neuen Buch, hervorragend von Uli Wittmann übersetzt, beschreibt sie das letzte gemeinsame Stück Weg von Mutter und Tochter, diesmal jedoch nicht als Fiktion, sondern als autobiografischer Text. Im Mittelpunkt steht der Dialog der beiden über den geplanten Tod der Mutter. Die Mutter möchte ihre Tochter auf diesen Tod vorbereiten, Trauer, Schmerz und Angst auffangen und ihre Tochter bei der Verarbeitung all dessen zum letzten Mal begleiten. Sterben und Tod ist in der Vorstellung der Mutter genauso natürlich wie Geburt und Leben, sie gehören in dieser ganzheitlichen Sichtweise als natürliche Elemente der menschlichen Existenz dazu.

Vor diesem Hintergrund erteilt die über 90-jährige Hebamme der Tochter die letzte Lektion. Durch tägliche Telefonate miteinander verbunden, ist diese Lektion die schwerste, verlangt doch die Mutter von ihrer Tochter, die Entscheidung mitzutragen, ganz bewusst und in Würde aus dem Leben zu gehen.

Erzählt wird das Zusammenspiel der beiden in dieser Zeit. Als die Idee auftaucht, ein Buch über diese Zeit zu schreiben, treffen die beiden diese Entscheidung gemeinsam, sie schreiben das Buch "gewissermaßen vierhändig, während des Schreibens war sie [die Mutter, M.V.] immer da", wie Châtelet bei einer Lesung im Institut francais am 13.3.2006 in Düsseldorf berichtete. Entstanden ist ein berührendes, ehrliches Dokument, ein Dialog über den Tod vor dem Tod. Ein Anspruch, den auch die Autorin Châtelet mit diesem Buch verbindet, nämlich "über den Tod zu sprechen, der uns allen gemein ist und was wir so wenig miteinander teilen", wie sie bei ihrer Lesung sagte. Sie will die gesellschaftliche Tabuisierung des Themas 'Würdevolles Sterben' durchbrechen und hat mit ihrem Buch in Frankreich eine intensive Diskussion über selbstbestimmtes Sterben ausgelöst. Daher begleitet sie das Buch seit zwei Jahren.

"Und ich meine auch, dass die Künstler die Aufgabe haben, wenn die Gesetzgeber noch nicht so weit sind, etwas dazu beizutragen", sagt sie. Das hat sie mit diesem offenen und direkten Buch getan. Auch in diesem Buch ist der Stil gewohnt essayistisch gehalten und von philosophischen Gedanken durchzogen. Damit nutzt die Autorin "Literatur als Mittel, philosophische und gesellschaftliche Themen zu entwickeln", wie bereits ihre ideale Vision vom Altsein im Roman "Dame in Blau". Die Diskussion über würdevolles Sterben eben nicht nur im Krankheitsfall - die Mutter ist nicht krank, sondern nur müde, heißt es im Buch - ist längst überfällig und sollte jenseits von negativ besetzten (Medien-)Bildern von siechenden Körpern umgeben von medizinischen Apparaten geführt werden.


Titelbild

Noëlle Châtelet: Die letzte Lektion.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
153 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3462036114

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