Musik und Melancholie

Ketil Bjørnstad über Irrungen und Wirrungen eines jungen Pianisten

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der in Oslo lebende Norweger Ketil Bjørnstad, Jahrgang 1952, ist offensichtlich ein echtes Multitalent. In 29 Jahren hat er 29 Bücher geschrieben und genießt außerdem einen guten Ruf als Jazzpianist und Komponist. Einige seiner Bücher wurden auch ins Deutsche übersetzt, zum Beispiel "Edvard Munch, die Geschichte seines Lebens" (1995), "Erlings Fall" (2001) und "Der Tanz des Lebens" (2002). Darin geht es um die Schwierigkeiten eines Mannes mit dem Älterwerden, während in dem gleichfalls auf deutsch erschienenen Buch "Villa Europa" (2003) die Geschichte einer Familie erzählt wird.

Im Mittelpunkt des jetzt erschienenen Romans "Vindings Spiel" steht ein hoffnungsvoller junger Mann - das heißt, so hoffnungsvoll ist er eigentlich gar nicht. Immer wieder wird er von Skrupeln und Zweifel heimgesucht. Nicht selten grübelt er vor sich hin. Zu Beginn der Geschichte, die er selber erzählt - durchweg in der Gegenwart - ist er fünfzehn Jahre alt, und als sie endet, hat er das achtzehnte Lebensjahr vollendet.

Die Erzählung beginnt fast idyllisch. Aber bald merkt man, dass das Glück brüchig ist. Der Held Aksel Vinding ist ein Mutterkind, etwas altklug -- offensichtlich im selben Jahr geboren wie der Autor - und führt mitunter ein etwas einseitiges Leben. Im Gegensatz zu seiner Schwester, die zwei Jahre älter ist und sich mit ihrer Clique oft draußen herumtreibt, streift er nie mit Freunden durch die Gegend. Ihm gefällt es nicht auf dem Fußballplatz, Eishockey mag er ebenfalls nicht. Er hat Angst vor den ewigen Prügeleien der "Jungs" und spielt am liebsten Klavier. Die Musik hat ihm seine Mutter nahe gebracht. Zu ihr hat er eine enge Beziehung, während der Vater eher im Abseits steht. Auch mit der Schwester hat der Junge anfangs kaum Kontakt.

Die Mutter ist nicht sehr glücklich in ihrer Ehe. Immer wieder kommt es zwischen ihr und dem Vater zu hoffnungslosen Versöhnungsversuchen, und dann - geschieht das Unglück. Die Mutter ertrinkt bei einem Badeausflug.

Nun geht der letzte Zusammenhalt in der Familie verloren. Jeder geht seinen eigenen Weg. Der Sohn bricht die Schule ab, um sich ganz dem Klavierspiel zu widmen, damit er für den Vorspielwettbewerb gut gerüstet ist.

Schließlich kommt er auch mit anderen talentierten jungen Menschen zusammen, die ebenfalls für den Wettbewerb üben. Sie alle verbindet die Liebe zur klassischen Musik. "Wir sind wie eine Sekte", bekennt der Erzähler, "wir wissen kaum, wer die Beatles sind oder die Rolling Stones. Wir beschäftigen uns mit etwas ganz anderem." Ihm hat es jedoch nicht nur die Musik angetan, auch die fast gleichaltrige Anja Skoog hat seine Aufmerksamkeit und Zuneigung geweckt. Allerdings lebt sie in ihrer eigenen Welt. Unter dem verhängnisvollen Einfluss ihres Vaters, dem berühmten Hirnchirurgen Bror Skoog, hat auch sie sich der Musik ergeben, mehr noch: Sie ist von ihr geradezu besessen. Sie feiert große Triumphe, überflügelt alle und scheitert dann doch.

Noch etliche andere bemerkenswerte Menschen, die hier nicht im einzelnen vorgestellt werden können, treten in Bjørnstads Roman auf. Erwähnt sei nur die aus Deutschland stammende Selma Lynge, die ihre große musikalische Laufbahn aufgab, als sie ihren künftigen Mann, einen norwegischen Philosophen, kennen lernte, und nun all ihren Ehrgeiz auf ihre Schülerinnen und Schüler überträgt.

Was am Ende aus dem Helden wird oder geworden ist, bleibt offen. Wird er wirklich ein großer Musiker? Scheitert er wie Rebecca, deren Scheitern eine glückliche Wendung nimmt, oder wie Anja, die traurig endet?

Der Band besticht durch anschauliche Natur- und Landschaftsschilderungen sowie durch kurze Beschreibungen der Jahreszeiten, insbesondere der Winter mit Eis und Schnee. Die einzelnen Bilder und Szenen sieht man plastisch vor Augen.

Stimmungen und Atmosphäre werden gut eingefangen. Deutlich spürt man die Spannung vor einem Konzert, das Lampenfieber der Debütanten und leidet mit ihnen mit, mit allen Fasern. Auch die einzelnen Menschen werden einfühlsam porträtiert.

Die Erzählung wirkt etwas schwerblütig und schwermütig. Im Gegensatz zu manchen französischen Romanen fehlt hier eine gewisse Leichtigkeit des Seins. Diese geht im Grunde allen Personen ab. Kurzum, es ist kein Buch, das seine Leser beschwingt, sie heiter oder froh stimmt. Im Gegenteil: Bjørnstads ruhiger elegischer Erzählton macht melancholisch und nachdenklich.

Etliche Probleme werden unaufdringlich angeschnitten: Gewalt in der Ehe, missglückte Beziehungen, Sprachlosigkeit zwischen Menschen, die sich eigentlich nahe stehen sollten, aber kaum etwas voneinander wissen, obwohl sie eine Familie bilden. Ferner wird offenkundig, wie Menschen Macht über andere gewinnen und sich diese hörig machen können. Man sieht zudem, wohin Besessenheit führen und wie gnadenlos die Welt sein kann, nicht nur bei Musikwettbewerben.

Überdies ist der norwegische Maler Edvard Munch in diesem Roman direkt oder indirekt fast stets präsent. Das kommt nicht von ungefähr. Immerhin hat er wie kaum ein anderer Maler um die Hintergründe des Daseins gerungen. Dunkle, grundlose Lebensangst kommt in vielen seiner Bilder zum Ausdruck. Man denke an "Das kranke Mädchen" in der Osloer Nationalgalerie und an das noch immer verschwundene Bild "Der Schrei". In seinen Kranken- und Sterbezimmern geistert der Tod wie bei den nordischen Dichtern Ibsen und Strindberg. Liebe ist bei Munch nicht wie bei Renoir ein beglückendes Spiel, sondern die Drohung eines dunklen Triebs.

Daneben schenkt der Autor der musikalischen Welt, in der er sich auskennt wie kaum ein anderer Schriftsteller, viel Aufmerksamkeit. Zahlreiche Gespräche drehen sich um Musik, um Komponisten und ausübende Musiker. Die einen sind von der Musik berauscht, förmlich hypnotisiert. Andere wiederum preisen sie als Geschenk, wie Aksels Mutter. Von ihr stammt der Ausspruch: "Wo Musik ist, da gibt es das Leben, stärker als anderswo."

Alles in allem ist Ketil Bjørnstads Buch ein fein gesponnener, intelligent und spannend erzählter Roman, in den der Komponist und Schriftsteller zweifellos eigene Erfahrungen hat einfließen lassen.


Titelbild

Ketil Bjørnstad: Vindings Spiel. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Lothar Schneider.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
346 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3458172920
ISBN-13: 9783458172925

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