Die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren

In Attila Bartis' beunruhigendem Roman "Die Ruhe" wird die Familie zum Vorhof der Hölle

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Einleitung zu Arthur Schnitzlers 1893 erschienenem Einakter "Anatol" beschwor Hugo von Hofmannsthal unter dem Pseudonym Loris noch einmal die alte Vorstellung von der Welt als Bühne und dem Leben als Theater in unnachahmlicher Manier: "Eine Laube statt der Bühne, / Sommersonne statt der Lampen, / Also spielen wir Theater, / Spielen unsre eignen Stücke, / Frühgereift und zart und traurig, / Die Komödie unsrer Seele, / Unsres Fühlens Heut und Gestern, / Böser Dinge hübsche Formel [...]".

Auch das (Zusammen-)Leben der Hauptfiguren in Attila Bartis' neuem Roman gerät nicht selten zur bühnenreifen Vorstellung. Das liegt zum einen daran, dass die Mutter des Ich-Erzählers, Rebekka Wéer, eine in Budapest einst ebenso begnadete wie gefeierte Schauspielerin von Shakespeare-Rollen war und die Wohnung der beiden vollgestopft ist mit ausgedienten Theater-Requisiten. Vor allem aber gleichen die Dialoge zwischen der verbitterten Mutter und ihrem Sohn in der Unverrückbarkeit und Unvereinbarkeit der Positionen einstudierten Rollen. Man spricht sich an, aber man redet nicht miteinander - und zu sagen hat man sich bis auf Beschimpfungen, Spott und Häme ohnehin nichts. Die zur hübschen Formel böser Dinge erstarrte Kommunikation spiegelt sich nicht zuletzt auch in der Orthografie der immer wiederkehrenden Fragen der Mutter wider: "Wannkommstdu", "Wowarstdu" und "Wohingehstdu".

Dem zweiten in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman (nach "Der Spaziergang", 1999) des 1968 im rumänischen Siebenbürgen geborenen und heute in Budapest lebenden Autors Bartis liegt eine denkbar einfache Figurenkonstellation zugrunde. Der Ich-Erzähler, der gleichzeitig auch Schriftsteller ist und Novellen schreibt, in denen ein wahnsinniger Pfarrer an einem Karfreitag seine gesamte Gemeinde durch vergiftete Hostien ausrottet, lebt mit seiner tyrannischen und egomanischen Mutter in einer kleinen Wohnung in Budapest, die sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr verlassen hat und die immer mehr einer bewohnten Gruft ähnelt.

Was ist geschehen? Als die Tochter und hochbegabte Violinistin, Judit Wéer, sich in den Westen absetzte, um dort ohne die Fesseln des Regimes Karriere zu machen, endet auch die Schauspielkarriere der Mutter. Zahlreiche Versuche, die Kulturfunktionäre der Partei zu beschwichtigen und sich selbst vor Nebenrollen und dem Absinken in die Bedeutungslosigkeit zu retten, schlagen fehl: Für den Verrat der Tochter an der staatlich verordneten Ideologie rächt sich die Obrigkeit mit einem faktischen Berufsverbot an der Mutter. Die Auflehnung der Rebekka Wéer erreicht ihren Höhepunkt, als sie ihre eigene Tochter für tot erklären lässt, nur um selbst wieder Tote und Tode - wie den der Cleopatra, ihre Paraderolle - auf der Bühne spielen zu können.

Die Beschreibung dieser für die Bühne des Lebens inszenierten Beerdigung der Tochter ist wie der gesamte Roman geprägt von der scheinbar ungerührten und emotionslosen Erzählweise des Sohns. Aber dass das Leben mehr ist als die Bühne, dass die Verletzungen, die Menschen einander zufügen, über den Moment hinweg fortdauern, reifen und letztlich zur Katastrophe führen können, kommt auch ihm schmerzlich zu Bewusstsein: "Das hier dauert allerdings nicht nur mal eben von sieben bis neun, und fertig, dann schminkst du dich ab, dachte ich. Wenn du deiner Tochter wirklich einen Grabstein hast aufstellen lassen, dann gibt es keine Schminke, mit der du dich wieder menschenfarben tünchen könntest."

Attila Bartis hat aber mehr als einen Theaterroman geschrieben, der den alten Topos der Identität von Leben und Theater am Beispiel eines Mutter-Sohn-Konflikts thematisiert - der stofflich sehr oft an die Figurenkonstellationen etwa in Elias Canettis' Autobiografie oder Chechovs "Möwe" denken lässt - und gleichzeitig die Mechanismen und Instrumente totalitärer Kulturpolitik und Propaganda nachzeichnet. In eingeschobenen Rückblenden wird auch die Kindheitsgeschichte von Judit und ihrem Bruder erzählt, eine Geschichte von Verletzungen, von versuchter, aber nie erreichter Nähe zur Mutter und von der Kälte, die man danach weitergibt. Judit entzieht sich der Mutter durch ihre Flucht. Der Erzähler indes bleibt bei seiner Mutter und versucht sie sogar vor der Außenwelt und schlechten Nachrichten zu schützen, obwohl sie immer wieder seine schriftstellerische Begabung mit vernichtenden Kommentaren in Frage stellt. Seine Fürsorge - man scheut sich, das Wort Liebe zu gebrauchen - geht so weit, dass er der Mutter gefälschte Briefe zukommen lässt, die von der geflohenen Schwester stammen sollen. Auch er weiß anfangs noch nicht, dass sie sich schon vor Jahren mit einer Geigensaite die Pulsadern aufgeschnitten hat.

Dennoch entlädt sich sein bisweilen blinder Hass auf die Mutter in zahlreichen Szenen von Verwünschungen ("Kratzen Sie doch endlich ab"), wo deutlich wird, dass der Roman seine unerhörte Spannung und wesentlichen Impulse mehr aus den gesprochenen Worten als aus den Handlungen der Figuren gewinnt. Als sich der Ich-Erzähler in die lebensmüde und offenbar durch frühen sexuellen Missbrauch - der Leser erfährt davon nur in Andeutungen - traumatisierte Eszter verliebt, beginnt eine ebenso leidenschaftliche wie zerstörerische Beziehung, die geprägt ist von Begehren und Zurückweisen, von der Sehnsucht, Erlösung im anderen Geschlecht zu finden, und die immer wieder durch die Konfrontation mit der Mutter, die Eszter als Flittchen und Nutte beschimpft, auf die Probe gestellt wird. Auch hier sind es die ausgesprochenen Worte, die die tiefsten Wunden im andern reißen, und die in ihrer Unerbittlichkeit - "Du sollst mich nicht lieben" - wie eine Kontrafaktur des biblischen Gebots der Nächstenliebe erscheinen.

In den teilweise drastisch, aber immer mit ungeheurer Virtuosität und metaphernreicher Sprache geschilderten Beischlafszenen zeigt sich nicht nur, welchen zeitgenössischen Schriftstellern der Autor offenbar verpflichtet ist. Ähnlich wie bei Philip Roth und Michel Houellebecq rühren die Beschreibungen zwar fast ans Pornografisch-Voyeuristische.

Mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit für Details des Sinnlichen gelingt es dem Autor aber auch die dahinterliegende 'metaphysische' Seite der Sexualität (und der Liebe) zu offenbaren: "Dann spürte ich, wie ihre Lippen die Nervenenden der Begierde auf und ab glitten, und langsam begann ich zu vergessen. [...] Ihre Zunge glitt noch einmal über den Bogen meines Gaumens, bohrte sich in den Spalt zwischen Lippe und Zahnfleisch, ihr Speichel rann mir in die Kehle, aber bis ich ins tiefste Innere ihres Körpers vorgedrungen war, bis ich das Verzweifelte Pochen ihres Herzens von innen her spürte, hatte sie keine Kraft mehr zu küssen."

Die gleichsam sehnsuchtsvoll-schmerzhaft und ängstlich-zurückweisend 'ausgelebte' Liebe der beiden würde zum bloßen Konstrukt zerfallen, verstünde sich der Autor nicht meisterhaft auf die Darstellung seelischer Zustände und Befindlichkeiten, die oft nur in kleinsten Andeutungen dem Leser vermittelt werden, dafür aber umso überzeugender sind. Der Roman zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er vollkommen ohne Schuldzuweisungen und platte psychologisierende Erklärungsversuche für die teils irrationalen Handlungen seiner Figuren auskommt.

Die Bühne des Romans wird bevölkert von Erniedrigten und Beleidigten, die selbst auch Opfer sind und Täter werden, und für deren aufzehrende Beziehungsproblematik es nur vordergründige Erklärungen geben kann. So werden etwa in knappen Andeutungen die Untiefen von Verletzungen und Verunsicherung aufgetan ("Es ist beschissen, wenn man ausschließlich Liebhaber und Bekannte hat"), die die ansonsten als monströs geschilderte Mutter in einem ambivalenten Licht erscheinen lassen.

Die Beziehungs- und Familientragödie spielt sich in Bartis' Roman im Abgrund des Normalen und Alltäglichen ab und das Irrationale wird in kleinen Nebenepisoden weitergeführt. Da ist zum einen die schon erwähnte Novellenfigur des Pfarrers, für dessen absurd erscheinenden Massenmord nicht der geringste Erklärungversuch unternommen wird, oder jene Prostituierte und Vogelliebhaberin, deren Wohnung voller Käfige und Vögel ist, und die in einem Wahnsinnsakt Dutzende von Vögeln im Park vergiftet.

Die zeitgeschichtliche Folie für dieses Psychogramm eines Familienzerfalls bietet das Ungarn Mitte der 1980er Jahre, kurz vor der Wende. Allerdings sollte man der wohl verkaufsstrategisch zu bewertenden Bezeichnung des Romans als "Wenderoman" nicht allzu schnell Glauben schenken. Zwar werden die politischen Umwälzungen und das beginnende Tauwetter vor allem auf den Lesereisen des Erzählers in Gesprächen und Kommentaren von Nebenfiguren schlaglichtartig eingefangen. Doch im Mittelpunkt der Geschichte steht nicht die Relation von Mensch, Bürger und Staat. Die politischen Verhältnisse und lebensweltlichen Bedingungen der Hauptfiguren erscheinen nur im Hintergrund als (mögliche) Auslöser einer dann unter der Regie der individuellen Ängste, Zwänge und Sehnsüchte der Akteure aufgeführten Tragikomödie. Die Hölle, das sind eben immer noch die anderen.


Titelbild

Attila Bartis: Die Ruhe. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Agnes Relle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
300 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-10: 3518416820

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