Die "immerwährende Aktualität der Seuchen"

Zwei Arbeiten zu ihrer Geschichte und Deutung

Von Anja SchonlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Schonlau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seuchen haben Konjunktur. Mittlerweile vergeht kaum ein Tag, ohne dass die Tageszeitungen über den aktuellen Stand herannahender Seuchenformen berichten. Der Neuigkeitswert der Vogelgrippe hat seit einiger Zeit SARS abgelöst und steht immer wieder in Konkurrenz zu AIDS. Seit den 90er Jahren wächst auch das Interesse an der Seuchengeschichte ebenso deutlich wie die Qualität entsprechender medizin- und kulturgeschichtlicher Arbeiten. Denn "Aktualität und historische Dimension der Seuchen weisen sie als ein medizinisches und kulturgeschichtliches Thema ersten Ranges aus", erklärt Petra Feuerstein-Herz einleitend im Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel "Zur Geschichte der Seuchen in der frühen Neuzeit".

Die Wolfenbütteler Ausstellung von 2005 und der hierzu erschienene Katalog - beide von Feuerstein-Herz konzipiert - stehen unter dem Motto "Gotts verhengnis und seine straffe". Dieses Luther-Zitat stammt aus der einschlägigen Schrift "Ob man vor dem Sterben fliehen möge" (1527), die zum Wolfenbütteler Bestand gehört. Das Zitat steckt den Deutungsrahmen ab, in dem Seuchen in der frühen Neuzeit wahrgenommen wurden. Diese historischen Deutungen des epidemiologischen und bakteriologischen Phänomens stehen im Mittelpunkt des Katalogs, wie Helwig Schmidt-Glintzer in seinem Vorwort ausführt.

Der Ausstellungskatalog enthält neben Vorwort und Einleitung 14 bebilderte Fachbeiträge und einen Katalogteil mit den Abbildungen von 86 Exponaten. Methodisch orientiert sich der Katalog an Martin Dinges' Forderung ("Neue Wege der Seuchengeschichte", Stuttgart 1995), den wissenschaftlichen Fokus auf die historischen Akteure zu richten. Der Aufsatzteil führt in chronologisch-thematischer Gliederung von der frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert und endet mit einem Sprung in die aktuelle Forschung.

Die Leser erfahren zunächst Wissenswertes über Seuchen allgemein. Dinges weist darauf hin, dass Schreiben über Seuchen fast immer "moralische Kommunikation" gewesen sei. Im Anschluss daran thematisiert Feuerstein-Herz das Verhältnis der Seuchen zum Buchdruck, das nicht zuletzt durch zeitliche Koinzidenzen zu einem zentralen Forschungsfeld der Seuchenforschung geworden ist. Der kulturwissenschaftliche Blick wagt sich längst über ehemals enge Forschungsgrenzen hinaus, so dass Marina Arnold hier Leichenpredigten und Andreas Herz Selbstzeugnisse als seuchengeschichtliche Quellen auswerten können. Als Beispiel einer zeitgenössischen Krankengeschichte führt Harald Bollbuck das Danziger Pestlager Martin Opitz' vor, der selbst ein prominenter literarischer Deuter von Seuchen war.

In den weiteren Aufsätzen repräsentieren Beispiele für Ansteckungstheorien, Seuchenhospitäler und Selbstmedikationen den medizinischen, institutionellen und patientengeschichtlichen Rahmen der Seuchen. Michael Schilling erläutert zur Flugblatt-Kultur, dass es sich bei der konkreten Darstellung einzelner Epidemien um Ausnahmen gehandelt habe. Diese bekannten Themen zur Seuchengeschichte ergänzt Otto Ulbricht durch einen anregenden, mentalitätsgeschichtlichen Ausflug in die komplexe Angstbewältigung zu Pestzeiten. Dieter Merzbacher befasst sich mit Seuchen als Erzählmotiven in Meisterliedern. Nach einer ausgewogenen Darstellung der Impfung in Bevölkerung und Herrscherhäusern schließt der Textteil mit einem Beitrag zur aktuellen Infektionsforschung.

Auch dieser Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel zeichnet sich wie gewohnt durch eine gute Ausstattung und ebensolche Abbildungen aus. Heitzmann bemerkt zwar bescheiden, dass der medizinische Bestand in Wolfenbüttel quantitativ nicht an den theologischen, juristischen oder literarischen heranreiche, aber die Abbildungen lassen an der Qualität dieses Bestands keinen Zweifel. Es befinden sich darunter so seltene Stücke wie drei Quellen zum englischen Schweiß und ein Kometenblatt aus dem Pestjahr 1680, das die Deutung des Kometen als göttlichen Vorboten strafender Krankheit eindeutig belegt. Eine Pestfahne mit Totenkopf zeugt von der Schauerästhetik eines seuchenhygienischen Gebrauchsgegenstands, dessen Abschreckungsmacht der abstrakten Kälte heutiger Zeichen zur Seuchenwarnung in nichts nachsteht.

Etwas irritierend wirkt der allgemeine Titel: Während die Abbildungen der Exponate durchaus einen Einblick in die allgemeine "Geschichte der Seuchen in der frühen Neuzeit" vermitteln, konzentrieren sich gut die Hälfte der Aufsätze auf die Pest. Wenn die Pest auch zu Recht als zentrale Seuchenerfahrung der frühen Neuzeit beschrieben wird, so erhebt der Titel doch einen umfassenden Darstellungsanspruch, den der Katalog so nicht einlöst. Ein vergleichbarer Katalog des Deutschen Hygienemuseums Dresden von 1995 mit dem ebenso allgemeinen Titel "Das grosse Sterben - Seuchen machen Geschichte" hatte sich dagegen Pest, Pocken, Cholera und Aids gleichermaßen verpflichtet gezeigt. Insgesamt ist der Wolfenbütteler Ausstellungskatalog jedoch eine sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf die Bildauswahl gelungene Analyse und Dokumentation der Deutungsgeschichte der Seuchen in der frühen Neuzeit, welche die eindrucksvollen Bestände der Herzog August Bibliothek in das rechte Licht rückt und der Forschung gewinnbringend erschließt.

Die dritte und verbesserte Neuauflage von Stefan Winkles großer "Kulturgeschichte der Seuchen" von 1997 kann den umfassenden Titel fraglos mit mehr Recht als der Wolfenbütteler Ausstellungskatalog beanspruchen. Wie in der Erstauflage des Winkle'schen Monumentalwerks befasst sich jeweils ein Kapitel mit einer Krankheit und ist intern nach dem chronologischen Schema 'Altertum, Mittelalter, Neuzeit, Mikrobiologische Ära' gegliedert. Zu der eindrucksvollen Seuchenaufstellung (Lepra, Milzbrand, Tuberkulose, Cholera Asiatica, Diphetherie, Wundinfektion, Ruhr und Typhus, Geschlechtskrankheiten, Trachom, Malaria, Nagana und Schlafkrankheit, Pocken, Gelbsucht, Gelbfieber, Grippe, Krätze) sind in der dritten Auflage Tanzwut, Papageienkrankheit und ein letztes, hochaktuelles Kapitel zu 'Seuchen, biologischer Kriegführung und Bioterror' hinzu gekommen.

Im Klappentext heißt es, dass Stefan Winkle "in der erweiterten Neuauflage seines Hauptwerks die Summe eines reichen Forscherlebens" ziehe. Das ist zugleich die Stärke und die Schwäche dieser Arbeit. Wie die älteren Medizingeschichten ist "Geißeln der Menschheit" eine in der Forschungsleistung außerordentlich beeindruckende Materialsammlung, die zugleich gut lesbar ist. Unter diesem Aspekt wird auch die Neuauflage ihren berechtigten Platz in den medizingeschichtlichen Bibliotheken einnehmen. Von neueren geschichts- wie kulturgeschichtlichen Ansätzen, von jeder Art theoretischer Reflektion ist die Arbeit jedoch weit entfernt. Das hat in populären Kulturgeschichten mit publikumswirksamen Titel bekanntlich Tradition und möglicherweise auch seine Berechtigung. Detailreichtum und Anmerkungsapparat dieser Arbeit zeigen aber, dass hier mit wissenschaftlichem Anspruch gearbeitet worden ist. Winkles Wissenschaftsverständnis hat sich jedoch offensichtlich vor dem 'cultural turn' der 90er Jahre verfestigt. Das Literaturverzeichnis legt nahe, dass Winkle zudem keine Forschung nach 2000 rezipiert hat und auch aus den 90er Jahren nur Arbeiten zu Aids und sowjetischer Biowaffenaufrüstung berücksichtigt.

Dieses nur schwer aktuell zu nennende Wissenschaftsverständnis reicht bis in die sprachliche Darstellung hinein. Dabei irritiert die mentalitätsgeschichtliche Unschuld, mit der hier im Jahre 2005 ein Formulierung wie "lasterhafte Kriegsdirnen" wiederholt gebraucht und nicht in Anführungszeichen gesetzt wird, wie auch das Fehlen jeglichen Sinns für Fiktionalität, wenn etwa Grimmelshausens "Courasche" als anschauliche zeitgenössische Quelle gedeutet wird, vor allem auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Nun streunt die Literaturwissenschaft bei interdisziplinären Arbeiten häufig mit nicht weniger fachferner Sorglosigkeit durch die Medizingeschichte. Insgesamt fehlt Winkles Darstellung aber das grundlegende, kulturgeschichtlich notwendige Bewusstsein dafür, dass es sich bei Krankheitsbildern um kulturelle Produktionen handelt, deren ehemalige Deutungen die aktuelle Forschung zwar als 'ehemalig', d. h. nicht dem aktuellen herrschenden Diskurs gemäß vorführen, die sie aber auch selbst nur durch neue Deutungen ersetzen kann.

So belegen Winkles Kulturgeschichte und der Wolfenbütteler Ausstellungskatalog gleichermaßen die "immerwährende Aktualität der Seuchen", von der die Forschung mittlerweile so gründlich ergriffen wurde, aber nur letzterer reflektiert auch deren 'immerwährende Deutung'.


Titelbild

Stefan Winkle: Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2005.
1534 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-10: 3538071594

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Petra Feuerstein-Herz (Hg.): Gotts verhengnis und seine straffe. Zur Geschichte der Seuchen in der Frühen Neuzeit.
Wolfenbütteler Ausstellungskatalog, Bd. 84.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2005.
270 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3447052252

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