Schauplatz grausamer Laster

Die erste historisch-kritische Edition von Lohensteins dramatischen Meisterwerken "Agrippina" und "Epicharis"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683) sei so berühmt, dass Reklame für ihn zu machen "nicht mehr vonnöten" sei, meinte der Literaturkritiker und Publizist Benjamin Neukirch 1697: "Alle seine Gedanken sind scharfsinnig, seine Ausbildungen sind zierlich [...]. Seine Tragödien sind von den besten."

Mit der Edition zweier dieser Tragödien ist die erste historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Lohensteins eröffnet worden. Sie fußt auf Vorarbeiten, die der Germanist Gerhard Spellerberg (1937-1996) für eine Auswahlausgabe der Werke Lohensteins im Deutschen Klassiker Verlag unternahm, wurde aber inzwischen ganz neu konzipiert. Statt einer Auswahl soll nun das gesamte Werk, und zwar erstmals historisch-kritisch aufgearbeitet, publiziert werden. Angesichts Lohensteins Stellung in der Literaturgeschichte und der inzwischen nicht mehr bezweifelten Qualität seiner Werke ist es verwunderlich, dass dies nicht schon längst geschah. Zwar trat auch schon die von Klaus Günter Just herausgegebene dreibändige, inzwischen längst vergriffene Edition der Dramen Lohensteins (1953-57) mit dem Anspruch auf, eine "historisch-kritische Neuausgabe" zu sein, doch handelt es sich dabei um "ein eigenartiges Zwitterding aus diplomatischem Nachdruck und historisch-kritischer Edition", vor allem weil Just nach unklaren Kriterien "unhistorische Mischtexte" herstellte, wie seit Längerem bekannt ist.

Lothar Mundt begann die erste nun wirklich historisch-kritisch zu nennende Ausgabe mit der Edition der beiden so genannten "römischen Trauerspiele" "Agrippina" und "Epicharis". Beide wurden 1665 das erste Mal zusammen gedruckt und zwischen dem 2. und 18. Mai 1666 alternierend "Durch Die im Elisabethanischen Gymnasio Studierende Jugend" in Breslau aufgeführt. Für die vorliegende Edition kam nur der jeweilige Erstdruck als Textvorlage in Frage, da er die einzige zu Lohensteins Lebzeiten erschienene Ausgabe war, wenn auch der Neudruck beider Stücke im Jahr 1685 insofern "besondere Beachtung" verdient, als ihn "der Autor zwar nicht mehr erlebt, aber wohl," so Mundt im Editionsbericht, "noch in die Wege geleitet hat". Seiner Ausgabe fügt Mundt auch die Lesarten der Neudrucke von 1701 und 1724 hinzu, weil diese trotz textkritischer Irrelevanz gelegentlich "Hinweise für eine plausible Emendation solcher Stellen geben konnten, bei denen" im Erstdruck "eindeutig eine Textverderbnis vorlag, die ein Eingreifen des Herausgebers erforderte." Von der "Agrippina" existiert seit Albrecht Schönes Anthologie "Das Zeitalter des Barock" (1963) ein diplomatischer Nachdruck der Erstausgabe, von der "Epicharis" liegt jedoch erstmals seit 1665 nun wieder eine kritisch emendierte Edition des Erstdrucks vor.

Dies ist umso erfreulicher, als diese beiden Stücke zweifellos neben der "Sophonisbe" der Höhepunkt des dramatischen Werks von Lohenstein und vielleicht des gesamten 17. Jahrhunderts sind. Bekanntlich arbeitete Lohenstein nicht mehr an der dramatischen Darstellung der "vergänglichkeit menschlicher sachen", die sich noch Gryphius in seinen "Trawerspielen vorzustellen" vornahm, sondern setzte sich in einer kaum zuvor erreichten Eindringlichkeit mit den damals aktuellen politischen Problemen auseinander und verlieh der geschichtlichen Welt in seinen Stücken einen bis dato unerhörten Eigenwert. In der "Sophonisbe" ist der Blick des "Verhängnüsses" nicht mehr in die Höhe, sondern in die Ferne gerichtet. Analog muss der Mensch, der das Verhängnis, das heißt, die ewige Wahrheit, ergründen will, seinen Blick nicht mehr vertikal auf Gott in der Höhe richten, sondern horizontal in die Ferne des geschichtlichen Ereignisraums. In Lohensteins Stücken wird die zyklische Geschichtstheorie bereits verabschiedet zugunsten einer linear gedachten Ereigniskette.

"Epicharis" bietet dafür sogar eine bemerkenswerte formale Analogie, denn dieses Stück ist eines der wenigen Trauerspiele des 17. Jahrhunderts, das keinen abschließenden "Reyen" kennt, so dass seine Handlung offen bleibt. Dazu gehört auch, dass das Stück wie kaum ein anderes selbst als Medium im Kampf um die politischen Freiheitsrechte des Menschen inszeniert wird. Es handelt von der missglückten, d. h. verratenen und daher zerschlagenen, so genannten Pisonischen Verschwörung gegen den römischen Kaiser Nero.

Anders als in der historischen Hauptquelle, den "Annales" des Tacitus, wird hier eine historisch kaum belegbare junge Frau zur Märtyrerin der Freiheit. Sie gestaltete Lohenstein quasi als zweiten, wenn auch unglücklicheren Brutus. Epicharis erreicht ihr Ziel, das römische Staatswesen mit dem Blut des Tyrannen reinzuwaschen, nicht. Doch sie weiß, dass ihr der Sieg auf lange Sicht nicht zu nehmen ist: "So, wenn Epicharis schon längst wird seyn gestorben, / Wird sich die Nachwelt ihr zu einem Tempel weihn / Und ihr Gedächtnüs-Bild ein ewig Nahme seyn, / Und wenn man mich und dich wird auf den Schauplatz heben, / Wird Nero nur durch Schmach, ich durch die Tugend leben."

Das Drama selbst ist nämlich die von Epicharis vordem vergeblich ersehnte "Schutz-Schrifft", die den Sieg der vorderhand unterlegenen Märtyrerin über den Tyrannen verbürgt, weil in diesem "Denckmal künftger Zeiten" das Blut der Märtyrerin zu einer "Schrift" wird, die einen "Entgeisterten beim Leben noch erhält", den Despoten aber erledigt. Damit tritt die Tragödie als Medium des Nachruhms an die Stelle Gottes bzw. dessen "Buch der Ewigkeit". Das Stück feiert eine radikale Republikanerin und eine politische Märtyrerin, ohne dass es jedoch zu einem einseitigen Propagandastück würde. In ihm wird vielmehr ein "pluraler Geschichtsdiskurs" (Dirk Niefanger) inszeniert, der hoch aktuell wirkt.

"Epicharis" ist ein exzessives Stück. Epicharis selbst wird bereits im zweiten Akt verhaftet. Die folgenden drei Akte halten für sie nur noch Martern und Folter bereit; für manche Leser ist dies vermutlich zu viel. Das Stück gilt als grausamstes und blutigstes Trauerspiel Lohensteins; der Rezensent schrieb anderswo einmal: "Röchen die Wörter wie das, was sie bezeichnen, so stänke das Stück wie ein Schlachthof."

Auch das zweite Stück des vorliegenden Bands ist extrem. Bernhard Asmuth nannte es das "lasterhafteste und sinnlichste Drama" des Autors. Wollust und Grausamkeit scheinen hier aufs Engste verschwistert. Die 'Bettszenen' (Poppäa sucht auf offener Bühne "Nero zu seinem Gefallen zubringen"; Neros Mutter Agrippina versucht ihren Sohn mit dem Argument zum Inzest zu verführen, dass die Natur "Zirckel"-artig organisiert und es daher nur natürlich sei, wenn "ein holdreicher Sohn" den "Schoos der Mutter suchet", aus dem er einmal kroch) schienen den pädagogischen Autoritäten des 17. Jahrhunderts offenbar nicht jugendgefährdend zu sein, während man dergleichen im 19. und frühen 20. Jahrhundert unerträglich fand; so wie auch die immer noch schockierenden Szenen mit Agrippinas Tod: Die Kaisermutter wird auf offener Bühne brutal abgeschlachtet (Anicetus: "Die Schlange dreh't sich noch, sie ist noch nicht gestorben." Herculeus: "Stoß das behertzte Schwert noch einmal ihr in Leib"), bevor ihr Sohn den nackten Leichnam im Stil eines pervertierten petrarkistischen Frauenlobs bis ins intimste Detail als "Zeughauß süsser Lust" rhetorisch abmalt und "Hitz und Durst" seiner Geilheit am Ende mit Alkohol zu löschen sucht: "Reich't uns ein Glaß mit Weine." Lange Zeit wurde das Stück in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen "nur gestreift", wie sich Asmuth 1971 ausdrückte; kein Wunder bei solchen Szenen der Nekrophilie. "Lohenstein aber erschreckt mehr als Sade und Freud, denn er bietet weder die Absolutionen der Wissenschaft noch die Troestungen eines mechanischen Weltbilds", meinte der genau 300 Jahre jüngere Kollege Hubert Fichte (1935-86), der 1977 eine Bearbeitung von Lohensteins "Agrippina" anfertigte.

Diese beiden extremen Stücke werden nunmehr endlich in einer endgültigen Edition in den literarischen Kanon eingereiht. Die Ausgabe erfüllt im Falle Lohensteins erstmals die Anforderungen an eine wissenschaftliche Edition. Die Voraussetzungen der Publikation, die Überlieferung der Texte und die Grundsätze der Redaktion werden offengelegt und nachvollziehbar gemacht. Die inzwischen erreichten Standards wissenschaftlicher Edition werden überall eingehalten. Der "editorische Furor" schoss eigentlich nur in zwei Kleinigkeiten über das Ziel hinaus: Was soll die Beibehaltung des 'Schaft-S' innerhalb der modernen Antiqua-Schrift oder die Beibehaltung der Auszeichnung des Umlauts durch superskribiertes 'e', wenn man ansonsten alle anderen typografischen Gewohnheiten der Frühen Neuzeit und die "Besonderheiten der Fraktur [...] ignoriert"? Offenbar handelt es sich um Relikte einer Diskussion mit dem Verlag, der "mit Rücksicht auf die verlegerische Verwertbarkeit" weitergehende Forderungen der Herausgeber - zum Beispiel: den Text in Fraktur zu drucken - zu Recht ablehnte.

Zwei zentrale Bestandteile der Edition machen die Ausgabe zu einer Pionierleistung: Das betrifft erstens den Umgang mit Lohensteins "Anmerckungen" zu seinen Trauerspielen und zweitens den Stellenkommentar. Zum ersten Mal überhaupt legt Mundt einen Stellenkommentar zu Stücken Lohensteins vor. Darin will er sprachliche Schwierigkeiten ausräumen, Sacherläuterungen, Quellenhinweise und Querverweise geben, Anklänge an Sentenzen und literarische Vorbilder nachweisen, Vorschläge zum Verständnis dunkler Einzelstellen machen und spezielle textkritische Probleme diskutieren.

Ganz zu Recht hat Mundt "lieber etwas zuviel als zu wenig erklärt" und sich vorgenommen, den Horizont eines freilich "überdurchschnittlich belesenen, motivierten und lernwilligen Studenten" im Auge zu behalten, anstatt nur für Fachleute zu schreiben. Manchmal hält er allerdings besagten "Studenten" für nicht besonders begabt; so etwa, wenn er zu der oben zitierten Passage aus Epicharis' Schlussrede kommentiert, dass es sich bei dem mit "dich" Angesprochenen um Nero handelt, was ziemlich klar ist, oder dass "auf den Schauplatz heben" so viel bedeute wie "auf die Bühne / aufs Theater bringen". Gelegentlich kommentiert Mundt auch eindeutig zu wenig, so etwa, wenn er bei dem ebenfalls oben zitierten Wortwechsel der beiden Mörder Agrippinas zwar darauf verweist, dass Agrippina bereits zwei Mal zuvor in dem Stück als "Schlange" bezeichnet wird, aber nicht darauf hinweist, dass es sich hier auch um eine Anspielung auf Gryphius' "Leo Armenius" handelt, wo einer der Verschwörer unter anderem sagt: "stoßt das beherzte schwerdt / In des tyrannen brust, der euren tod begehrt"; obwohl doch "Anklänge an literarische Vorbilder (z. B. Seneca und Gryphius)" nachzuweisen, ausdrücklich Programm des Kommentators war. Verdienstvoll genug ist es aber allemal, den ersten Stellenkommentar überhaupt geliefert zu haben.

Noch verdienstvoller ist die Arbeit an Lohensteins eigenen "Anmerckungen". Bis auf seinen Erstling "Ibrahim Bassa" hat Lohenstein seine Dramen selbst bereits schon mit einem manche Anspielung erklärenden und Quellen nachweisenden Kommentar versehen. Erstmals bietet die vorliegende Ausgabe die präzisen, "durchwegs auf Autopsie" beruhenden "Nachweise für alle von Lohenstein beigebrachten Zitate und sonstigen Literaturangaben". Da Lohenstein ausschließlich fremdsprachige Werke zitiert, mussten alle Zitate übersetzt werden. Praktischerweise sind Lohensteins "Anmerckungen" und die dazu gehörigen Nachweise und Übersetzungen von Mundt parallel gedruckt, so dass man hier nicht blättern muss. Welche Arbeit in diesem Teil der Ausgabe steckt, kann man ermessen, wenn man weiß, dass Lohensteins "Anmerckungen" nebst dem editorischen Schlüssel jeweils gute 90 Seiten umfassen. Erschlossen wird dieser von Lohenstein hergestellte Apparat durch ein alphabetisches Autoren- und Werkverzeichnis im Kommentarband, das selbst noch einmal gute 40 Seiten stark ist. Hier handelt es sich keineswegs um eine bloße Liste, sondern den einzelnen Werktiteln folgen noch sogenannte Fundstellenlisten, aus denen hervorgeht, ob Lohenstein direkt oder aus zweiter Hand zitiert. Da von den rund 300 Autoren, die Lohenstein anführt, bestimmt zwei Drittel aus zweiter Hand zitiert werden, ist die Aufschlüsselung der Fundstellen keine geringe Arbeit. Ein intensives Studium dieser Teile lässt begreifen, auf welche Weise ein so eruditer Autor wie Lohenstein seinen Dramentext aus den Quellen destillierte.

Wie bei solchen Ausgaben inzwischen üblich, enthält der Textband auch die Titelkupfer der Erstausgaben, die faksimilierten Titelblätter der Stücke, die beiden Szenare von 1666 ebenfalls mit faksimlierten Titelblättern; dazu kommen noch die acht 'Porträt'-Kupfer der handelnden Hauptpersonen (von einem anonymen Zeichner und Stecher nach antiken Münzbildern angefertigt), die dem Erstdruck beider Stücke beigegeben waren, sowie als Bildanhang acht Abbildungen von Doppelseiten aus den Erstdrucken. Der Kommentar wird durch eine Übersicht zur europäischen Nero-Dramatik vor Lohenstein und ein Literaturverzeichnis, das unter anderem die wichtigsten Sekundärliteraturtitel nennt, abgerundet.

Obwohl Lohenstein der bedeutendste deutschsprachige Dramatiker des 17. Jahrhunderts war, ist seine Präsenz in Schulen und universitären Seminaren verhältnismäßig gering, im Vergleich etwa zu seinem Vorgänger Gryphius. Das liegt daran, dass bisher nur zwei Stücke von Lohenstein als Taschenbuchausgaben auch für Lernende erschwinglich waren: "Cleopatra" und "Sophonisbe" (bei Rowohlt und bei Reclam). Leider wird auch die vorliegende Ausgabe dieses Problem nicht beheben, denn sie hat einen (mit Verlaub) aberwitzigen Preis, der selbst manche Universitätsbibliothek von der Anschaffung abhalten wird.


Titelbild

Daniel Casper von Lohenstein: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung II: Dramen. Band 2: Agrippina / Epicharis.
Herausgegeben von Lothar Mundt.
De Gruyter, Berlin 2005.
871 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110181568
ISBN-13: 9783110181562

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