Deutsch-deutsche Theoriediskurse zur Rolle des Lesers

Mandy Funke untersucht den Austausch zwischen ostdeutscher Rezeptionstheorie und westdeutscher Rezeptionsästhetik

Von Daniel J. GallRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel J. Gall

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine bemerkenswerte Konstante der theoretischen Entwicklung bis weit ins letzte Jahrhundert war wohl die Stigmatisierung des Lesers. Auf die romantische Überhöhung des Autors folgte die Überhöhung des Textes, dessen Autonomie gerade die New Critics vehement verteidigten, indem sie den Leser mit beinahe religiöser Überzeugung aus dem Verständnisvorgang aussperrten. Als in den 1960ern im deutschsprachigen Raum dann Rezeptionsästhetik (Westdeutschland) und Rezeptionstheorie (Ostdeutschland) entstanden, um die Rolle des Lesers zu hinterfragen und neu zu bestimmen, ergab sich bald ein lebhafter Austausch, dessen Dokumentation sich Mandy Funke in der vorliegenden Arbeit zur Aufgabe macht. Routiniert skizziert sie die methodischen Vorbilder, derer sich beide Seiten bemächtigten - hier eben Hans-Georg Gadamer, der als Schutzpatron von Jauß'

Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaften fungiert, dort Georg Lukács, dessen langer Schatten noch über der Leitschrift der Rezeptionstheorie, Gesellschaft-Literatur-Lesen, schwebt. Interessant wird Funkes Arbeit vor allem da, wo sie den Theorietransfer zwischen beiden Lagern abklopft.

Zuerst wird anhand ausgewählter Quellen (von Mandelkow über Eggert, Naumann und anderen bis hin zu Reese ist alles vertreten, was in diesem theoretischen Diskurs Rang und Namen hat) die Rezeption von Jauß nachvollzogen. Doch während die Kollegen aus dem Westen Einwände gegen die mangelnde objektive Verfügbarkeit seines Textbegriffs und gegen seine Textimmanenz hatten, plädierten die DDR-Kollegen für eine stärkere Wertung des Produktionsaspekts, aus dem ihrer Meinung nach eine an den Leser gerichtete Rezeptionsvorgabe hervorging. Die Vorwürfe gleichen sich und stellen dieselben Fragen, auch wenn die unterliegenden Ästhetiken unterschiedlich fundiert sind. Ironischerweise taucht der selbe Vorwurf in ähnlicher Form auf, wenn Jauß Gesellschaft-Literatur-Lesen rezensiert und bemängelt, dass der semantischen Produktivität des "tätigen Lesers" zuwenig Raum beigemessen wird. Die Kollegen im Osten waren, wie Funke zeigt, gegenüber dem besagten Sammelband weniger kritisch und feierten ihn als maßgebliche Innovation der Literaturtheorie.

Dieser aufschlussreichen Quellenkunde hängt ein Schlussteil an, in dem einige Zeitzeugen selbst zu Wort kommen, namentlich Karlheinz Barck, Manfred Naumann (mit dem Jauß bald in regem Briefverkehr stand) und Dieter Schlenstedt. Die Reaktionen der Herren reichen vom lakonisch Belanglosen (wenn Barck gleich in seinem ersten Satz meint, das sei "alles dreißig Jahre zurück, das ist sozusagen ein alter Hut", zieht er seiner Interviewpartnerin doch wenig galant den Boden unter den Füßen weg und scheint auch sonst recht kurz angebunden) über das sympathisch Altersmilde (so gesteht Naumann ein: "Wir waren keine Freiheitskämpfer, sondern reformgläubige marxistische Utopisten.") bis zum introspektiven Einblick, den Schlenstedt in die Schaffensbedingungen der ostdeutschen Theoretiker gibt. Gerade dieser Aspekt hätte die Darstellung dieses wichtigen Kulturtransfers noch verstärkt. Die Protagonisten werden einfach nicht nachhaltig genug in ihre akademischen und sozialen Kontexte eingebettet und hängen so ein wenig in der Luft.

Wie es trotz aller politischen und institutionellen Klüfte zu einer bemerkenswerten theoretischen Konvergenz kommen konnte, bleibt leider vage - um zu erfahren, dass es im Osten wie im Westen irgendwie einfach mal Zeit war für einen Paradigmenwechsel in Richtung des Lesers, hätte es der Arbeit nicht bedurft. Auch kritische Fragen nach einer etwaigen sozialen Verantwortung der Rezeptionstheoretiker bleiben eher außen vor, und man erfährt mehr am Rande über die weitreichende Einflussnahme, die die politische Führung über die ostdeutsche Akademie ausübte, wenn Schlenstedt etwa anmerkt, wie Kollege Naumann und er sich die Einmischung in die Arbeit an Gesellschaft-Literatur-Lesen verbaten. Wenigstens versucht Funke, die Rezeptionstheorie im theoretischen Kontinuum zu verankern und stellt in Zusammenarbeit mit ihren Interviewpartnern besonders die Rolle heraus, die der Lukács-Kritik nach dessen Verwicklung in den ungarischen Volksaufstand von 1956 zukam.

So originell ist Funkes Ansatz freilich insgesamt nicht und baut wohl direkt auf die Anregungen, die im Rahmen der an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, ihrer Alma Mater, abgehaltenen Konferenz zur Rezeptionsforschung in Ost und West (2000) gegeben wurden. Auch wenn keine weitere Bezugnahme auf diese Konferenz erfolgt (die Ergebnisse wurden erst 2003 in einem Sammelband veröffentlicht), greift Funkes Dissertation doch einen Aspekt heraus, der wissenschaftsgeschichtlich hochinteressant bleibt und weitere Arbeiten rechtfertigt.


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Mandy Funke: Rezeptionstheorie - Rezeptionsästhetik. Betrachtungen eines deutsch-deutschen Diskurses.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2004.
201 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-10: 3895284300

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