Was bin ich?

"Die alte Kunst Geschichten zu erzählen" in neuen medialen Zusammenhängen

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Erzähltheorie gehört zu den Grundlagendisziplinen der Literaturwissenschaft", stellt Antje Janssen-Zimmermann zu Beginn ihrer Monografie fest - die Bedeutung, die die Literaturwissenschaft dem Erzählen zumisst, entspricht insofern der Bedeutung des Erzählens für die Literatur. Erzählen (und zwar ein analysierbares und der Analyse wertes Erzählen), postuliert die Autorin, findet - entgegen der offenbar in der Literaturwissenschaft mehrheitlich vertretenen Meinung - jedoch nicht nur in der Literatur statt, sondern auch im privaten Bereich: Mündliche oder schriftliche Erzählungen konstituieren unsere Vergangenheit und unsere Individualität.

Die Literaturwissenschaft allerdings, schreibt Janssen-Zimmermann, schenkt den so genannten "Alltagserzählungen" nicht genug Aufmerksamkeit - wenn sie sich überhaupt dem normativen Literaturbegriff nicht entsprechendem, mündlichem Erzählen widmet, dann lediglich, um dessen Differenz zum kulturell relevanten (eben literarischem) Erzählen festzuhalten. Diesen Mangel an vorurteilsfreier Auseinandersetzung führt die Autorin auf den antiquierten Bildungsbegriff in der Literaturwissenschaft zurück, der literales, also schriftliches, Erzählen als Gegenstand der Forschung privilegiert und dabei im Medium Buch Ent- und Erhaltenes über mündlich Tradiertes stellt.

Allgemein wird das "gute Buch" gleichfalls mit Nachdruck über das "schlechte Fernsehen" erhoben, was von einer gewissen Arroganz im Umgang mit den 'neuen' Medien zeugt, die nicht als Kulturträger im emphatischen Sinne empfunden werden. Janssen-Zimmermann konstatiert jedoch eine "neue Mündlichkeit nach der Schriftlichkeit" - Radio und TV prägen den Alltag vieler Menschen heute weit mehr als der schriftlich fixierte Text. (Obgleich im Internet einzusehende Texte vermutlich ebenfalls zu berücksichtigen wären, könnte man anfügen.)

Auf der anderen Seite sind im Alltag eine Reihe literarischer Strukturen aufzufinden: Die Beschreibung ihrer Vielfältigkeit und die Anwendung literaturwissenschaftlicher Analyseformen auf diese Systeme könnte z. B. auch die Nützlichkeit von im Germanistik-Studium erworbenem Wissen im Alltagsleben aufzeigen. Der Verzicht auf die Privilegierung literaler Untersuchungsgegenstände erscheint dabei nicht als Verlust, sondern als Gewinn, ja geradezu als Notwendigkeit, um der Medienentwicklung besser zu entsprechen: "Das Medium Fernsehen, seine Inhalte und seine Nutzung sind in der Wertehierarchie der Medien derzeit an letzter Stelle anzutreffen, wiewohl es gegenwärtig das bestimmende Medium der Alltagskultur ist."

Obgleich sich die Autorin also davon überzeugt zeigt, dass ihr Untersuchungsgegenstand literaturwissenschaftlicher Analyse bedarf und die Literaturwissenschaft von einer partiellen Neuorientierung auf vielleicht ursprünglich fachfremde Inhalte profitieren kann, holt sie weit aus, um ihr Thema der "inszenierten Narrationen in Talkshow-Formaten" zu rechtfertigen, und problematisiert erst einmal die Aufstellung von Kanones allgemein und den auch in der Postmoderne noch immer nachhallenden Ruf nach Innovation und Individualität in der Kunst.

Am Ende dieser Ausführungen vermerkt die Autorin eine Ähnlichkeit von postmoderner Literatur und den Mustern des Fernsehkonsums: Der Zuschauer selbst verwandelt durch seine Rezeptionsgewohnheiten den vom Fernsehen angebotenen Text in eine Art postmoderne Textstruktur - er 'zappt' zwischen verschiedensten Angeboten hin und her, kombiniert verschiedene Sendetexte miteinander, seine Aufmerksamkeit zersplittert. Sendungen werden nur noch fragmentarisch, als Momentaufnahmen und/oder als Hintergrundgeräusch wahrgenommen.

Trotz dieser allgemein verbreiteten Sehgewohnheiten suggerieren allerdings einige der von Janssen-Zimmermann untersuchten Talkshows, Lebenshilfe und Seelsorge anbieten und erneut sinnstiftend wirken zu können. Der Erfolg der Talkshow-Formate zeugt davon, dass offenbar ein Bedürfnis nach ritualisierten Formen und der Illusion von Zusammenhang besteht. Dabei scheint das Fernsehen als Medium autobiografischen Erzählens besonders wichtig zu sein: "Die zur Untersuchung stehenden Formate verbinden [...] das biographische Erzählen des 'Ichs' und produktionsästhetisch den Anspruch, Lebenswirklichkeit symbolisch zu repräsentieren - entweder als individuelle Geschichte von a priori besonderem Publikumsinteresse (Prominente) und/oder als Fallbeispiel und Beleg für vorformulierte Aussagen/Thesen (Erzählungen von der Öffentlichkeit bislang unbekannten Personen)." Die zur Debatte stehenden Talkshows vermitteln den Rezipienten anscheinend das Gefühl, dass hier Individuen, die stellvertretend für bestimmte Gruppen stehen können, über die Erzählung ihrer eigenen Geschichte herrschen können - somit zeugen sie von einem augenscheinlich ungebrochenen Glauben an die Möglichkeit von Repräsentanz.

Janssen-Zimmermann registriert dabei drei Varianten von Zuschauerverhalten bei der Rezeption von Talkshows: Zum einen den Glauben an die Faktualität des Erzählten, d. h. ein Anspruch des Rezipienten auf die Wirklichkeitsreferenz des Dargestellten, zum anderen die Erkenntnis einer Diskrepanz zwischen Wahrheitsanspruch und Wirklichkeit, die der Zuschauer mit Abschalten bestraft. Die dritte Haltung ist die für ihre Untersuchung Ergiebigste: Hier verzichtet der Zuschauer auf eine Einstufung des Gehörten als wahr oder unwahr, oder er stuft diese Unterscheidung als bedeutungslos ein, weil er das Format zum Zweck der Unterhaltung nutzt - Janssen-Zimmermann spricht im Rekurs auf eine von Jean-Paul Satre beschriebene Haltung bei der Rezeption von Literatur von einer "Neutralisierung" des Anspruchs auf Wirklichkeitsreferenz.

Da Prüfverfahren zur Einschätzung der Faktualität bestimmter Erzählungen bei Talkshows geradezu ausgeschaltet sind und der Wirklichkeitsbezug oft kaum festzustellen ist - sind dem Zuschauer die Personen auf dem Bildschirm und ihre Lebensumstände unbekannt, so kann er im Fall einer Sendung, die auf Gesprächen mit Anrufern basiert, die oft enttarnende Mimik der Erzählenden nicht sehen etc.-, liegt eine solche 'neutrale' Haltung bei der Rezeption von Talkshows sehr nahe. Auf dieser Ebene nähert sich die Rezeptionshaltung der Fernsehzuschauer der eines Lesers an: Auch bei der Lektüre von Literatur erscheint die Frage nach Wirklichkeitsreferenz nicht mehr relevant, da diese vor allem über ihre Fiktionalität definiert wird.

Die Autorin kann durch präzise Analysen der in den von ihr untersuchten Talkshows ("Lämmle live", "Boulevard Bio", "Domian", "Fliege") vorgefundenen Erzählungen einige interessante Thesen glaubhaft machen. Für sie bedeutet das Erzählen in der Talkshow ein "Erzählen in Gesprächen", ein "Erzählen in Kooperation". Es erzählt nicht nur der Gast, sondern - und dies zunächst einmal vom Zuschauer unbemerkt - der Moderator erzählt den Text mit. Nicht nur, indem er den Gästen Fragen stellt und ihre Geschichte somit strukturiert, wenn er den Erzählenden z. B. zur Konzentration auf Relevantes auffordert oder Hintergrundinformationen einfordert, sondern oft auch, indem er die Er-Erzählung seiner Gäste durch eine Ich- oder Du-Erzählung ergänzt und komplettiert, d. h. ihnen Äußerungen in den Mund legt ("Aber die Mutter in dir weiß sehr wohl, was du dir für Deine Kinder wünscht.") und zuweilen Deutungsmöglichkeiten der Biografie anträgt. Auch weitere Gäste können zur kooperativen Erzählung beisteuern: Ein Streit oder ein gemeinsames Erzählen von Tatbeständen trägt ebenfalls dazu bei, dass die - doch scheinbar allein von der Lebenserfahrung des Vortragenden bestimmte - Erzählung sozusagen zum Gemeinschaftswerk eines Kollektivs wird.

Ebenfalls interessant wäre in diesem Zusammenhang auch die Analyse einer weniger 'gehoben' erscheinenden Talkshow gewesen, die Janssen-Zimmermann erst am Ende ihrer Arbeit eher kursorisch erwähnt, also vielleicht eine jener Sendungen, in denen sich die biografischen Erzählungen der Gäste durch den Streit Verwandter oder Bekannter konstituiert. Hier wäre vielleicht auch der Fall eingetreten, der in der vorliegenden Untersuchung kaum angesprochen wird: Dass Gäste narrative Strukturen bewusst einsetzen, um ihre Geschichte ansprechender zu gestalten. Zwar wird konstatiert, dass eine der Erzählenden in "Boulevard Bio" "Formulierungsverfahren unter dem Primat ästhetischer Prinzipien" - die Möglichkeit von szenischer Darstellung und Figurenrede im Erzählerbericht -, genutzt habe, doch im vorliegenden Fall erscheint dieses Verfahren vielmehr unbewusst eingesetzt worden zu sein.

Für die Analyse von Talkshows interessant ist aber vor allem, dass der Erzählende für den Fernsehzuschauer weiterhin verantwortlicher Urheber seiner Geschichte bleibt, obwohl er in die Präsentation des von ihm Vorgetragenen kaum eingreifen kann. Im Gespräch verschiedener Gäste, in der Auseinandersetzung mit dem Moderator, durch die Kameraführung, die Regie etc. mag seine Erzählung Bedeutungen aufnehmen, die er nicht intendiert hat. Erst das Zusammenspiel verschiedenster, nicht mehr seiner Kontrolle unterliegender Faktoren führt zur Gesamtaussage. Das Bild, das der Zuschauer sich vom Erzählenden macht, kann also nur zum kleinsten Teil von diesem selbst bestimmt werden - seine Darstellung unterliegt nicht seiner Kontrolle.

Unterschiede treten dabei schon zwischen der Intention der Talkshowgäste und der Rezeption der Zuschauer auf: Die Erzähler hoffen durch ihrem Auftritt bzw. ihre Gesprächsmeldung meist andere zu informieren oder Lebenshilfe zu erhalten, während die Zuschauer Unterhaltung erwarten. Dabei liegt es nicht an den Talkshow-Gästen, "wenn ihre nicht-autonomen Erzählungen anders inszeniert werden, wenn der Sendetext anders produziert und rezipiert wird".

Das Genre Talkshow - dies stellt Janssen-Zimmermann als eine der Erkenntnisse ihrer Arbeit fest - hält somit an der "Utopie des Individuums", einer "unbeschädigten und kommunizierbaren formalen Ich-Identität" fest, wenn es scheinbar intakte Subjekte präsentiert, die ihre eigene Geschichte erzählen (können) - paradoxerweise wird diese Geschichte jedoch nicht allein durch sie gestaltet, sondern ist manipulierbar und 'gehört' nicht mehr dem Subjekt. Gleichzeitig wird auch die Utopie eines "umfassenden und offenen Diskurses" aufrechterhalten. Das Themenspektrum hat keine Grenzen: "Alles scheint möglich, aber nichts ist wirklich wichtig im unausgesetzten Gespräch."


Kein Bild

Antje Janssen-Zimmermann: Die alte Kunst Geschichten zu erzählen. Inszenierte Narrationen in Talkshow-Formaten. Ein Beitrag zur Erzähltheorie.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
359 Seiten, 56,50 EUR.
ISBN-10: 3631533489

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch