Von der Moral zum Widerstand

Erzählungen Yun Heunggils

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neun Paar sorgfältig gepflegter Schuhe bleiben zurück, als der Untermieter Kwon verschwindet. Er war, sollte man meinen, ein Alptraum für jeden Vermieter: vorbestraft, die Frau zum dritten Mal schwanger, und keine Rede davon, die Nebenkosten zu bezahlen. Als bei der Geburt Schwierigkeiten auftauchen, schießt der Vermieter dennoch das notwendige Geld für die Operation vor - und Kwon, der davon nichts weiß und den Nachmittag versäuft, versucht in der Nacht betrunken einen dilettantischen Überfall auf den Wohltäter und lässt sich, als er sich durchschaut zurückziehen muss, nicht mehr sehen.

Wie mag der Vermieter Oh diese Geschichte erzählen? In jener Erzählung, die dem Sammelband des 1942 geborenen Yun Heunggil ihren Titel gab, flucht er nicht über die Undankbarkeit der Armen, sondern versucht Kwon zu verstehen. So wird deutlich, warum Kwon ins Gefängnis kam: weil er sich wütend gegen die Polizisten auflehnte, die ihn und andere Slumbewohner noch aus den ärmlichen Hütten und von den winzigen Grundstücken, die ihr einziges Eigentum waren, vertreiben wollten. Alles, was den Eindruck einer Untat erweckt, ist Folge von Kwons Ehrbegriff , für den eben die Schuhe stehen, die seinen Protest gegen den sozialen Abstieg bezeichnen.

Das ist aber nicht das Schlusswort. In der folgenden Erzählung wechselt die Perspektive und wendet sich Kwon gegen Ohs Deutung seines Lebens. Er hat sich nun gewandelt, hängt nicht mehr an Ehre, sozialem Status und überlegener formaler Bildung, sondern will sich einfach durchkämpfen. Die Chance eröffnet sich scheinbar, als er vom Wagen eines Konzernchefs angefahren wird. Zu spät durchschaut er, dass das scheinbar großzügige Angebot, ihn in dessen Fabrik arbeiten zu lassen, Bestandteil einer raffinierten Imagekampagne ist.

Eine dritte Erzählung spielt in jener Fabrik, in der die Führung eine quasimilitärische Ordnung durchsetzt, deren äußeres Zeichen die Einführung von Uniformen ist. Stehen hier die Mäkeleien der Angestellten im Mittelpunkt, die es zwar nicht zu entschlossenem Widerstand bringen, von denen einige sich aber doch mutig dem Konformitätsdruck widersetzen, so tritt in einem vierten Text wieder Kwon in den Vordergrund. Unfall und Medienpräsenz haben ihm wenig gebracht; als "Reinigungskraft" auf die unterste Ebene der Firmenhierarchie abgedrängt, geben ihm die Vorgesetzten keine Aufgabe und wollen ihn so zermürben - während ihn die Kollegen aus dem gleichen Grund für einen Spitzel der Chefs halten und ihn isolieren.

Dieser Zyklus von Erzählungen aus dem Jahr 1977 bildet eine Art von Roman; fünf andere, entstanden zwischen 1973 und 1977, gehen ihm voraus. Sie sind von unterschiedlicher Qualität. Geschwätzig wirkt etwa "Mittwinterkälte", wo in einem dezemberlichen Schneeeinbruch Hunderte von Personen fürchten müssen, dass die Busse in ihren Vorort ausfallen und der Protagonist sich mit einer jungen Frau auseinandersetzt, die bereit wäre, ein Hotelzimmer mit ihm zu teilen. Vorhersehbar kommt es dazu nicht, die Stadtverwaltung setzt doch noch Busse ein, und die Anekdote ist auf 30 Seiten ausgewalzt. Länger als nötig dauert auch die Geschichte des ehrbaren Professor Song, der sich einem Erpresser ausgesetzt sieht und zahlt, weil seine Gewissenserforschung ihm doch einen möglichen Grund nach dem anderen zeigt.

Wuchtiger sind die Grundmotive zweier anderer Geschichten, die 'Dorfidioten' zum Thema haben. "Das Lamm" führt in die Epoche des Koreakriegs zurück, in der auch mit "Regenzeit" eine schon früher übersetzte Erzählung Yuns spielt. Ein geistig zurückgebliebenes Kind hat unter nordkoreanischer Besatzung endlich einmal Anerkennung erfahren, indem es Propagandalieder lauthals nachsang. Nachdem sich die Kriegslage gewendet hat, wird es zur Gefahr für die Eltern. Einem anderen Behinderten, der vor allem als Spielkamerad der Kinder nützlich ist, ein kleines Feld zu überschreiben, konnte als Akt patriarchaler Fürsorge erscheinen - bis in der abgelegenen Gegend eine Fabrik gebaut werden soll und der Betroffene sich als einziger weigert, sein Land günstig zu verkaufen. Das Problem wird mit Gewalt gelöst, zum Schrecken der Kinder, die zu Zeugen werden.

Ökonomischer noch ist die Geschichte des Unteroffiziers Uh erzählt, eines so abscheulichen wie unbedeutenden Schinders, der qua Unfall zum Helden wird. Nach dem Unfall fast am ganzen Körper verbrannt, kommt die Geschichte in Umlauf, er habe aus dem Flammeninferno noch drei Kameraden gerettet. Aus Bequemlichkeit wollen die Rekruten, die unter Uh zu leiden hatten, die Lüge glauben und drücken sich doch darum, dem stinkenden Körper die Verbände zu wechseln - eine Arbeit, die ein anderer Unteroffizier aus ganz anderen Gründen auf sich nimmt. Freilich wird der Mann geprügelt, weil er nicht begreift, was er zum Ruhm des Geschwaders und der Streitkräfte überhaupt den Medien zu erzählen hat.

Hier wie überhaupt steht immer die Gewalt im Hintergrund, die dem Verhalten der Personen seinen Rahmen gibt und es meist bestimmt. Die Gewalt kann wirtschaftlich sein, politisch oder auch unmittelbar militärisch; unter den Bedingungen der südkoreanischen Militärdiktatur der 70er Jahre, die dem Land eine ökonomische wie gesellschaftliche Modernisierung aufzwang, verschwammen die Grenzen. Yun Heunggil scheint indessen nicht politische Kritik ins Zentrum seiner Texte zu stellen, sondern die Moralität der Betroffenen: statt der Gewalt der Offiziere die Bereitschaft der Soldaten zur Unterordnung, statt der Gewinninteressen eines Konzerns die Frage, ob die Kinder, die den Tod ihres geliebten Trottels gesehen haben, wohl schweigen mögen. Gerade daraus leitet der Übersetzer Shin Hyesu in seinem Nachwort her, dass in einem Appell zum friedvollen Miteinander die universelle Botschaft Yuns liege.

Man sollte sich vor einer solchen Ausweitung, die in Wahrheit eine Verkleinerung ist, hüten. Der Übersetzer nimmt hier ein wenig die Perspektive des wohlwollenden Vermieters ein, der Kwons Kampf ums Überleben genau so lange billigt, wie er auf Ehre und nicht aufs pragmatische Geldverdienen zielt. Verloren geht in dieser Sicht, wie Kwon am Ende als vermeintlicher Agent der Chefs verprügelt wird und gerade in diesem Moment erkennt, dass es um einen gemeinsamen, gewerkschaftlichen Widerstand gehen müsste.

Dieses Ende überführt den individuellen Moralismus, der sich aus einzelnen Erzählungen durchaus ableiten lässt, in politisch bewusstere Widerstandshandlungen. Im Rückblick erhalten die einzelnen Mittel, Menschen unter Druck zu setzen, ihren Platz in einer Struktur von Herrschaft. Geht es um eine universale Botschaft, so lautet sie also nicht, dass jeder doch gefälligst anständig sein solle, sondern dass Bedingungen, die einen solchen moralischen Mut fordern, abgeschafft gehören.

Der Weg zu dieser Erkenntnis ist vielleicht auch der des Autors, den die Erzählungen aus fünf Jahren nachzeichnen. Dem deutschen Leser ist der Weg durch zweierlei erschwert: einerseits durch die Schreibweise des Autors, der seine klug konstruierten Konflikte nicht immer mit der gebotenen Dichte durchführt, mehr noch aber durch den Übersetzer, dessen Deutsch nur selten überzeugt. In der Metaphorik als einem Kernbereich von Dichtung ist das Koreanische - zum Glück und bei Bedarf hilfreich erläutert - erhalten geblieben. Im Satzbau wie in manchen in der koreanisch-deutschen Übersetzungstradition bereits stilistisch wenig schön idiomatisierten Wendungen hätte Shin es besser vermieden. Auch die Wortwahl im Deutschen erscheint nicht immer glücklich. Ob etwa der Erpresser seinem Opfer gleich auf der ersten Seite die Hand fast freundschaftlich "entgegenstreckt" oder nicht besser sie "aufhalten" sollte? Die koreanische Formel "er kratzt dummerweise am falschen Bein" wäre wohl besser nicht wörtlich, sondern mit einer gleichfalls idiomatisierten Wendung, wie z. B. "er hat sich in der Adresse geirrt", übersetzt worden.

Ähnliche Missgriffe finden sich häufig und beeinträchtigen die Freude an der Lektüre von Erzählungen, die zu kennen gerade in einer Zeit sich verschärfender sozialer Auseinandersetzungen hilfreich ist. Yun skizziert, wie individuell aufrechte Haltung sich zu politischem Widerstand entwickeln kann und was an überkommenen Ehrbegriffen auf diesem Weg abzuwerfen ist.


Titelbild

Yun Heunggil: Der Mann, der neuen Paar Schuhe hinterließ. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Shin Hyesu.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2005.
270 Seiten,
ISBN-10: 3865320236

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