Kuckucksnester

Irische und deutsche Lyriker übersetzen sich im "VERSschmuggel"

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch sind eigentlich drei Bücher, mindestens: erstens eine zweisprachige Gedichtanthologie mit Gedichten von sechs irischen und sechs deutschsprachigen Lyrikern; zweitens ein Hörbuch, das den Mitschnitt einer öffentlichen Lesung sämtlicher Gedichte in beiden Fassungen präsentiert; und drittens (bzw. vor allem) die Dokumentation eines hochspannenden Übersetzungsexperiments auf Gegenseitigkeit. Als Leser und Hörer dieser drei Bücher in einem kann man sich nicht auf die übliche Rolle des passiven Rezipienten zurückziehen, sondern man muss unweigerlich aktiv werden, indem man Vergleiche anstellt, Versvergleiche noch und nöcher. Und was gibt's da zu vergleichen?

Am einfachsten ist es, die gedruckten Gedichte mit der auditiven Gestalt, die sie bei der Rezitation bekommen, zu vergleichen. Sinnvollerweise geschieht dies erst, nachdem man die Druckfassungen einmal ohne Beschallung durchgegangen ist, denn naturgemäß ist des Dichters oder der Dichterin Leseweise nicht immer die einzig mögliche, auch nicht immer die bestmögliche. Nachdem wir selbst gelesen haben, birgt der Vergleich mit dem, was uns von den CDs entgegenschallt, durchaus die eine oder andere Überraschung (nicht nur, weil kleinere Textabweichungen vorkommen). Noch spannender ist es aber, die irischen und deutschen Rezitationen zu vergleichen. Zwar wird den allermeisten Hörern notgedrungen jedes Sinnverständnis der irischen Versionen abgehen ('irisch' heißt in diesem Zusammenhang nämlich keineswegs 'englisch' oder 'anglo-irisch', sondern das, was man früher 'gälisch' nannte - eine für mitteleuropäische Ohren ausgesprochen unzugängliche keltische Sprache), umso mehr lässt sich das Augen- oder vielmehr Ohrenmerk aber auf die beträchtlichen klanglichen Unterschiede zwischen beiden Sprachen legen.

Vergleichen lassen sich - sowohl lesend als auch hörend - die Gedichte als solche. Gibt es Unterschiede zwischen den Gedichten, die die Iren geschrieben haben, und jenen, die von deutschen Autoren stammen? Gibt es womöglich sogar so etwas wie 'das typisch Irische' oder 'das typisch Deutsche'? Anhaltspunkte dafür finden sich durchaus. Die irischen Dichter und Dichterinnen sprechen viel und gern von der Natur, von Flora und Fauna, beschreiben die Natur als ein Scheinidyll, unter dessen Oberfläche Gewalt lauert, mal in archaischer und mal in moderner Ausprägung: Pittoresk überwucherte Festungen aus der Zeit der Normannen geraten ebenso in den Blick wie der Krieg im Irak und andere aktuelle Barbarismen - tatsächlich hält sich bei den irischen Texten ein in der deutschen Gegenwartslyrik kaum noch virulentes Gutmenschentum, das sich notfalls auch noch in den Sinngedichten Gabriel Rosenstocks ausmachen lässt. In den Originaltexten der deutschen, österreichischen und schweizerischen Beiträger hingegen spielt die Natur eine untergeordnete und politisch-gesellschaftliches Sendungsbewusstsein praktisch gar keine Rolle. Die Gedichte gehen mehrheitlich vom Ich aus und suchen dieses Ich in formalästhetisch strengen Bemühungen zu realisieren, wobei Klang und Rhythmik beinahe die Rolle zu übernehmen scheinen, die bei den Iren die Natur und andere Außenweltphänomene spielen. Anders gesagt: Die deutschen Gedichte arbeiten aus sich selbst heraus, die irischen arbeiten sich an der Außenwelt ab. "Ich bin der Baum, der morgen zerstört wird" lesen wir bei Cathal Ó Searcaigh (übersetzt von Maja Haderlap); dem gegenüber beginnt Barbara Köhler eins ihrer Gedichte mit "Ich übe das Alleinsein".

Aber allein sind die zwölf beteiligten Autoren und Autorinnen nicht, sondern sie treten paarweise auf: Jeweils eine deutsche und eine irische Stimme leihen sich einander für die Übersetzung. Vergessen wir folglich mögliche deutsch-irische Unterschiede und reden wir von ganz persönlichen. Am geringsten scheinen sie, was den lyrischen Ansatz betrifft, bei Nuala Ní Dhomhnaill und Mirko Bonné zu sein, die beide eine ganz ähnliche Sprache sprechen; bei beiden erzählen Ruinen in der Landschaft von geschlagenen Schlachten, und beide bewegen sich dichtend gern in der feuchten Sphäre zwischen Ufer und Festland. Ausgerechnet Gabriel Rosenstock aber, der Meister der epigrammatisch-knappen Form, der unter anderem mit einem Haiku-Zyklus an der Aktion beteiligt ist, hat als Partner den wortschwalligen Armin Senser zugesprochen bekommen, der sich in seinem Text in langen Aufzählungsorgien ergeht. Rosenstock rächt sich auf seine Weise, indem er in seine irische Übersetzung dieser deutschen Orgie einen Ian Paisley hineinschmuggelt, der dort im Original keineswegs zu finden ist.

Und damit wären wir bei den allerinteressantesten Vergleichsmöglichkeiten angelangt, nämlich denen zwischen Originalen und Übersetzungen. Gern würde ich an dieser Stelle detailreich erläutern, wer wen wie übersetzt, nur leider reichen meine äußerst defizitären Gälischkenntnisse dafür nicht aus; sehr wünschenswert wäre es, Zugang zu den Interlinearübersetzungen zu bekommen, die für dieses Experiment von Drittkräften angefertigt wurden (nicht alle irischen Dichter beherrschen das Deutsche und schon gar nicht alle deutschen das Irische). Implizit liegt dem "VERSschmuggel" jedoch die Auffassung zugrunde, Interlinearversionen seien keine Dichtung. Die beiden Herausgeber stellen in ihrem Vorwort für die gültige Übertragung lyrisch dichter Texte eine entsprechend hohe Hürde auf: "Wer könnte besser an der Übertragung dieser komplexen Textstruktur in die andere Sprache arbeiten als der Dichter selbst?" Die Antwort bleiben die beiden schuldig. Man möchte aber doch meinen, Übersetzen ist kein freies Neu-, sondern notwendigerweise ein an enge Grenzen gebundenes Nachschaffen, das folglich anderen Gesetzen gehorcht und andere Fähigkeiten erfordert als die kreative Eigenschöpfung. Eben deshalb gibt es den Berufsstand der Übersetzer, und keineswegs ist jeder gute Dichter ein guter Übersetzer - wie naturgemäß auch nicht jeder gute Übersetzer ein guter Autor ist, ganz und gar nicht.

Aber erfreulicherweise gibt es Leute, die beides können: stark dichten und präzis übersetzen. Zu jenen Mitarbeitern von "VERSschmuggel", die sich übersetzend weitestgehend in den Dienst der zu bearbeitenden Originale stellen, gehören Mirko Bonné und vor allem Dorothea Grünzweig, die die Form von Biddy Jenkinsons Gedichten bis in die Details der Interpunktion hinein wahrt; Jenkinson hingegen formt Grünzweigs Gedichte bewusst um und verknappt sie sogar. Das ist um so bemerkenswerter, als das Irische endlich einmal eine Sprache ist, die von Natur aus wortreicher ist als das Deutsche.

Monika Rinck macht sich das zunutze, indem sie bei der Übersetzung von Gréagóir Ó Dúills Gedicht "Frosch im Eimer" eine Verszeile einspart (vielleicht um das Lob am Ende des Gedichts - "Gute Arbeit" - zu rechtfertigen), während Rincks eigene Gedichte in der Fassung Ó Dúills länger werden, ebenso wie die Verse Maja Haderlaps in den Übertragungen Cathal Ó Searcaghs. Dass Michael Davitt es fertigbringt, ein fünfstrophiges 21-Zeilen-Gedicht von Barbara Köhler im Irischen in ein zweistrophiges 15-Zeilen-Gedicht zu verwandeln, liegt also keineswegs an der abweichenden Sprachstruktur, sondern an seinem bewusst verändernden Eingreifen in die Form.

Wer der Ansicht ist, die Form eines Textes müsse bei der Übersetzung weitestmöglich erhalten bleiben, wird über solche Fassungen kaum froh sein können - allerdings auch nicht über Haderlaps Eindeutschung von Ó Searcaghs "Postkarte für Yosuf im Irak", bei der die Endreime des Originals konsequent verworfen werden. Gelegentlich hat es übrigens den Anschein, als würden die Ur-Dichter zu solchen Veränderungen (und gleichzeitig zur Kritik daran) geradezu auffordern. Einer von Rosenstocks Haikus lautet in Sensers Version: "Ein Kuckuck! / Horch! / Prüft er die Anzahl der Silben?" Wer nun tatsächlich die Silben auszählt, wird in Sensers Eindeutschungen zu ganz anderen Resultaten kommen als bei Rosenstocks Originalen. Anscheinend hat ein deutscher Kuckuck andere Eier aus den besetzten Nestern zu werfen als ein irischer.

Aber Singvögel singen in Irland wohl auch anders als hierzulande; wenn es keine Differenzen zwischen den Sprachen gäbe, gäbe es ja auch keinen Grund (und keine Chance!) zum Übersetzen. Übersetzungsvergleiche sind immer aufschlussreich, und die Idee mit dem gegenseitigen Übersetzen, wie sie im "VERSschmuggel" praktiziert wurde, ist gewiss so pfiffig wie ein Lerchenschlag. Schade allerdings, dass es von jedem Gedicht nur eine einzige Übersetzung gibt. Noch spannender wird's nämlich, wenn man eine Übersetzung nicht nur mit dem Original, sondern auch noch mit anderen Übersetzungen des selben Textes vergleichen kann. Und dies keineswegs aus Konkurrenzgründen: Das Übersetzen ist bekanntlich keine olympische Disziplin, es geht nicht um 'besser' oder 'schlechter', sondern um Vielfalt und darum, durchaus unterschiedliche Verfahrensweisen als gleichermaßen legitim anzuerkennen. "Einen Schritt nur entfernt davon die Welt zu verstehn" ist der "Pilger" in Michael Davitts von Barbara Köhler übersetztem gleichnamigen Gedicht; die Kunst liegt darin, diesen letzten Schritt zu tun und doch immer noch einen Schritt Abstand zu wahren.


Titelbild

Aurelie Maurin / Thomas Wohlfahrt (Hg.): VERSschmuggel. Irische und deutsche Gedichte in Übersetzung 2 CDs und Booklet.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2006.
120 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3884232614

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