Kabbalistisches Denken

Karl Erich Grözingers werdendes Standardwerk zur jüdischen Theologie

Von Andreas KorpásRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Korpás

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2004 erschien im Campus-Verlag der erste Band einer dreiteiligen Geschichte des geistig-religiösen Judentums unter dem Titel "Jüdisches Denken. Theologie-Philosophie-Mystik. Band 1: Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles". Darin erklärte der Autor, dass es nicht seine Absicht sei, "Vollständigkeit zu erlangen", "sondern Grundlinien aufzuzeigen, welche die verschiedenen Epochen der jüdischen Religionsgeschichte charakterisieren." In einer Rezension der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" kritisierte Friedrich Niewöhner die Einschränkung des jüdischen Denkens auf die Religion. Diese beschränke sich bei Grözinger auf "die religiösen Lehren des Judentums" und behandele "nicht den Kultus, die Gesellschaft und das Ethos". Wenn Grözinger von jüdischer Philosophie spräche, meine er eigentlich Theologie. Wenn er versuche, "das Wesen des Judentums" in seinem religiösen Ausdruck darzustellen, verkürze er zu Unrecht das Judentum auf religiöse Aspekte, ohne das Entscheidende, nämlich "das Leben", zu berücksichtigen. Diese fundamentale Kritik ist im Grunde keine solche an der Arbeit und ihren Ergebnissen, sondern an ihrer terminologischen Einbettung. Gleichfalls hatte Niewöhner den Untertitel bemängelt, denn "gemeint sind die an Aristoteles ausgerichteten Philosophien des Abraham Ibn Daud (1110 bis 1180) und des Moses Maimonides (1135 bis 1204)".

Der zweite Band der Reihe erschien nun im Februar 2006 wiederum im Campus-Verlag und trägt den Untertitel "Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus". Er schließt chronologisch an den ersten Band an, obwohl einige Überschneidungen dabei nicht zu vermeiden waren. Im Mittelpunkt steht jene Strömung des geistig-religiösen Judentums, welche unter der Bezeichnung "Kabbala" zum Inbegriff jüdischer Geheimlehre geworden ist. Gemeint ist damit jene spezifische Form jüdischer Mystik, die sich um 1200 in Südfrankreich entwickelte und sich von dort aus zunächst nach Aragonien und Kastilien ausgebreitet hat, um dann im 18. Jahrhundert vor allem in Osteuropa neue Kraft zu entfalten. Die jüdische Mystik als "Verborgene Weisheit" steht zu Beginn in enger Wechselwirkung mit griechischer und arabischer Philosophie. Allerdings beschreitet sie gegenüber der mittelalterlichen jüdischen Philosophie eine entgegengesetzte Richtung. "Haben die mittelalterlichen jüdischen Philosophen den Versuch unternommen, die altjüdische Theologie, Kosmologie und Anthropologie mit den Mitteln der griechisch-arabischen Philosophie darzustellen, so haben die Kabbalisten den umgekehrten Weg beschritten. Sie haben die zentralen Gedanken der Philosophie in das Gewand der genuin jüdischen Tradition gekleidet", schreibt Grözinger.

Kabbala ist "Tradition" und "Überlieferung". Der Begriff, der aus dem hebräischen Wortstamm "kbl" abgeleitet wurde, bedeut im ursprünglichen Sinn "gegenüberstehen", "aufnehmen" und "empfangen". Die zahlreichen Autoren der Kabbala sind sich deshalb immer bewusst, dass sie eine göttliche Wahrheit, die "Wahre Tora", empfangen und weiterzugeben haben. Bei ihren vielen Zweigen und Spielarten handelt es sich daher immer um den Versuch, das göttliche Wissen in der richtigen Art und Weise zu interpretieren.

Nach heutigen Maßstäben wäre ein Studium der Kabbala nicht nur ein Studium der Theologie und der Philosophie, sondern auch ein Studium der Mathematik, der Linguistik, der Astronomie (Astrologie) und der Anthropologie. In allen diesen Bereichen ist die Kabbala zu Hause und bietet Antwort auf bestimmte Fragen. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen steht allerdings "die Frage nach dem Gottesbild und nach den sich daraus ergebenden Konsequenzen".

Nach Grözinger ist das Hauptproblem der Kabbalisten, dass sie sich "nicht mit der völligen Entrückung der Gottheit aus dem menschlichen Relations- oder gar Verfügungsbereich abfinden wollten". Ihre Antwort auf dieses Problem war der Versuch, "dem kommunikationsunfähigen Gott der Philosophen eine dialektisch zugeordnete Kommunikationsgestalt der Gottheit an die Seite zu stellen". Somit sei für die Kabbalisten "eine dialektische Verdoppelung des Gottesbildes" typisch, welche die Kommunikationskanäle zwischen Mensch und Gott wieder geöffnet habe.

Erst mit den Arbeiten Gershom Scholems erhielt die Kabbala-Forschung im 20. Jahrhundert eine wissenschaftliche Basis. "Ursprung und Anfänge der Kabbala" (1962), "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" (1957), "Von der mystischen Gestalt der Gottheit" (1962) und "Zur Kabbala und ihrer Symbolik" (1960) haben hierzulande ein breites Publikum mit wesentlichen Begriffen der Kabbala vertraut gemacht. Insofern ist der Anspruch des Verlags, dass "der vorliegende zweite Band erstmals eine systematische Darstellung kabbalistischen Denkens" biete, unangemessen. Gerade die Systematik, welche unabhängig von chronologischen Zwängen, vielmehr ideengeschichtlich durch die synoptischen Darstellungen Scholems erreicht wurde, wird von Grözinger zugunsten einer rein chronologisierenden Darstellung teilweise wieder aufgehoben. Dadurch sind thematische Doppelungen und zahlreiche Wiederholungen unvermeidlich. Recht eigenwillig sind auch durch den Autor eingeführte neue Schreibweisen bereits etablierter Fachbegriffe. So wird der Scholem'sche Chassidismus unversehens zum Hasidismus: "Wie für Hasidismus wurde für alle hebräischen Wörter eine Transkription angewandt, die einzig das Ziel verfolgt, im Munde des Nichthebraisten eine Aussprache zu erzeugen, die der hebräischen Aussprache mit Hilfe der deutschen Phonetik so nahe wie möglich kommt", erklärt der Autor.

Bemerkenswert und zugleich in seiner Handhabbarkeit fragwürdig ist der exorbitante Umfang des Werks - inklusive Register umfasst es 935 Seiten. Umso unverständlicher ist der Verzicht auf eine ausführliche Bibliografie der verwendeten Werke und ein Verzeichnis der häufigsten Abkürzungen. Die wissenschaftliche Arbeit wird dadurch unnötig erschwert. Immerhin vertröstet der Autor den Benutzer auf den dritten Band.

Das Buch bietet durch die Fülle an Material eine umfassende Darstellung der kabbalistischen Denkweisen von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Sie genügt - sollte der bibliografische Teil nachgeliefert werden - durchaus höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen und ist gut eingebettet in eine jahrzehntelange Forschungstätigkeit zur Kabbala, die vor allem mit den Namen Gershom Scholem, Joseph Dan und Moshe Idel verbunden ist.

Grözingers Reihe "Jüdisches Denken" verspricht schon jetzt zu einem Standardwerk für jüdische Theologie, Philosophie und Mystik zu werden. Durch die durchgehende Verwendung wissenschaftlicher Fachbegriffe in Verbindung mit einer Fülle nicht leicht zu erschließender Zitate richtet sich der vorliegende Band in erster Linie an ein Fachpublikum, ohne allerdings Leser mit weniger Vorwissen an kabbalistischer und philosophischer Terminologie auszuschließen.

Der Autor betrachtet seine Arbeit dann als erfolgreich, "wenn sich im Denken der Menschen, der Wissenschaftler wie der gebildeten Öffentlichkeit, die Einsicht und das bestimmte Wissen einprägen wird, dass mit der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament der Christen, weder das Judentum noch dessen geistige Produktion zu Ende gekommen ist".


Titelbild

Karl E. Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie - Philosophie - Mystik. Band 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
935 Seiten, 74,00 EUR.
ISBN-10: 3593375133

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