Wahrheiten und Methoden

Ein Sammelband zu Wissenschaftlern im George-Kreis

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Kreis um Stefan George (1868-1933) gehörten zahlreiche Wissenschaftler aller Fachrichtungen an, die in unterschiedlicher Weise Anregungen des Dichters für ihre Tätigkeit fruchtbar machten. Der aus einer Tagung der George-Gesellschaft in Bingen hervorgegangene Band "Wissenschaftler im George-Kreis" bietet zwanzig Annäherungen an Personen und Werke und ist damit nach Auskunft des Vorworts "das bisher unfassendste [sic] Werk" zu diesem Thema. Die Herausgeber sehen drei Schwerpunkte: Georges Wirkung stehe in Zusammenhang mit der Intensität seiner aktiven Beschäftigung erstens mit einem bestimmten Fach oder zweitens mit einem Menschen, der aus der Begegnung und der gemeinsamen Arbeit Orientierung für seine wissenschaftliche Tätigkeit gewann oder für ein Fach oder eine Idee begeistert wurde; drittens habe George zuweilen auf Forschungswege Einfluss gehabt, die auch nach seinem Tod beschritten wurden.

Die Herausgeber gestehen zu, dass sich die Ergebnisse von Tagung und Band "nicht zu einer knappen Formel zusammenfassen" lassen. Das liegt sicher auch an der Vielfalt der vertretenen Zugriffsweisen. Wird in einigen Fällen die Geschichte des persönlichen Kontakts von George mit einem Wissenschaftler nachvollzogen, so geht es in anderen Beiträgen um inhaltliche Berührungspunkte oder um die Frage, wie sich aus der Vielgestaltigkeit und Deutungsbedürftigkeit des dichterischen Werkes Wirkungen auf einzelne Disziplinen begründen ließen. Insgesamt steht eher das Thema 'George und der Wissenschaftsbetrieb' im Vordergrund. Ergebnis ist hier, den in jüngster Zeit oft hochgespielten Einfluss des Georges-Kreises auf Berufungsverfahren wieder etwas geringer zu veranschlagen.

Deutlich weniger Aufmerksamkeit wird dem Bereich 'Georges Dichten und das wissenschaftliche Denken' zuteil. Die Kontrastierung von Dichten und Forschen hätte dabei womöglich einen Gewinn auch für das Verständnis von Georges Werk erbracht. Einiges leistet aber Dirk von Petersdorff, der an seine eigenen Untersuchungen der Frage anknüpft, wie George in seinem Werk "den Gestus von Wahrheitsbesitz, Deutungsmacht, Selbstsicherheit" in Zweifel zieht (im vorliegenden Band widerspricht dem freilich Matthias Weichelts Lesart des Spätwerks als "autistischer Akt").

Den Bogen von der Dichtung zur Wissenschaft schlägt Bertram Schefold, der feststellt, dass weder Georges "Politik" noch seine "Religion" systematisiert werden können. Gleiches gilt sicher auch für 'seine Wissenschaft'. Laut Schefold gab es im Kreis "keine gemeinsame wissenschaftliche Methode - nicht einmal eine Gemeinsamkeit der wissenschaftlichen Erfahrung." Schefold hebt aber die Suche nach dem 'Bedeutenden' sowie "Gründlichkeit und Sorgfalt" als verbindende Kennzeichen hervor.

Andere Beiträger kommen vor allem auf letztere beiden Eigenschaften zurück. Nur im Zusammenhang der "Wesenssuche" seiner Mitglieder lässt sich nach Schefold das Wissenschaftsverständnis des George-Kreises verorten. Dem Suchenden schenken aber weniger Beiträger Aufmerksamkeit als dem Apodiktischen, das als Dogma gelesen wird. Schefold verteidigt dagegen die Autorität Georges mit dem Hinweis, dass in den vom George-Kreis mitgeprägten Geisteswissenschaften ein notwendiger Verständigungsprozess nicht immer "in nützlicher Frist abgeschlossen werden kann, so dass man dem Urteil eines bedeutenden Wissenschaftlers ein Vertrauen entgegenbringen muss, ohne alle Begründungen selbst nachvollziehen zu können". Hier überschnitten sich Lebenserfahrung und Methode.

In dieser Hinsicht liegt in der Lebensgemeinschaft von Kreismitgliedern ein nicht zu unterschätzender und umso schwerer dingfest zu machender Einfluss auf Inhalte, Vorgehens- und Darstellungsweisen wissenschaftlicher Arbeit. Dies untersucht Raymond C. Ockenden am Beispiel des 'Castrum Peregrini', einer Lebensgemeinschaft und einer Zeitschrift, die im Amsterdamer Exil des Zweiten Weltkriegs aus dem Geiste Georges gegründet wurde und spätestens seit den Sechziger Jahren zahlreiche grundlegende Editionen und Forschungsbeiträge zum George-Kreis geliefert hat.

Ebenfalls zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen Arbeit und Leben trägt Bruno Pieger bei, der verfolgt, wie der Hölderlin-Herausgeber Norbert von Hellingrath aus dem Dichten Hölderlins und Georges seinen Begriff des geschichtlich wirkmächtigen 'mythischen Denkens' entwickelte und Welt- und Sprachverhältnis verband. Eindrücklich zeichnet Pieger die Debatten zwischen Hellingrath und seinen akademischen Lehrern nach, als das erste der aus dem George-Kreis erarbeiteten "Jahrbücher für die geistige Bewegung" 1910 einen Streit mit den Positivisten entfacht.

Rainer Kolk betont die Rolle des George-Kreises bei der Neuausrichtung der philologischen Wissenschaften auf die Lebenswelt der Gesellschaft hin. Es wäre sicher möglich, in einer Zeit, da die Geisteswissenschaften einem besonderen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind, hieraus Anregungen zu gewinnen. Auch die "transdisziplinäre Ausrichtung" des Kreises kann in Zeiten der Kulturwissenschaft als vorbildlich gelten.

Einige Beiträge beleuchten Persönlichkeiten, die ein "Doppelleben" führten: Vor allem Wolfgang Schuller widmet sich Figuren, die gleichzeitig positivistische Wissenschaftler und Kreismitglieder waren, nämlich drei Altertumswissenschaftlern. Deren Versuche, ein am Objektivitätsideal orientiertes Arbeiten mit dem Ethos des Kreises zu verbinden, seien gescheitert. "Froh macht einen dieser Befund nicht", kommentiert Schuller abschließend und formuliert damit eine Aufgabe für die eigene Disziplin.

Der Band liefert zahlreiche wertvolle biografische Skizzen zu Kreismitgliedern und zeigt auf, dass sich einflussreiche Persönlichkeiten zu George bekannten, auch wenn sie nicht immer Inhaltliches oder Methodisches von ihm übernahmen (hier sei der ausführliche Beitrag von Wolfgang Graf Vitzthum über die Rechts- und Staatswissenschaftler aus dem Kreis hervorgehoben, die - wie es scheint: beim besten Willen - inhaltlich und methodisch nicht mit George in Verbindung zu bringen sind).

Zugleich beleuchtet der Band, zu welchem Grad besonders philosophische und soziologische Strömungen (Bergson, Dilthey, Heidegger, Max und Alfred Weber) in Auseinandersetzung mit dem George-Kreis konturiert wurden. Umgekehrt bietet der Band, vor allem durch Jürgen Egyptiens "Shakespeare im George-Kreis" Untersuchungen dazu, wie dort herausragende geistesgeschichtliche Figuren rezipiert wurden. Bernhard Böschenstein und Ernst Osterkamp machen dagegen in Beiträgen zu Ernst Bertrams "Nietzsche" und Wilhelm Steins "Raffael" auf Abwege aufmerksam.

Graf Vitzthum und Adolf Heinrich Borbein lenken den Blick auf Bereiche, in denen der George-Kreis eine Haltung befürwortete, die auch von anderen gesellschaftlichen Strömungen vertreten wurde. Dann ist schwer zu entscheiden, ob etwa nietzscheanisches Gedankengut über George rezipiert wurde oder auf anderen Wegen. Volker Kruses Beitrag zu George und Max und Alfred Weber führt eindrücklich vor Augen, wie nah sich der Dichter und die Soziologen in ihrer Diagnose von Zeiterscheinungen waren und welch unterschiedliche Folgerungen sie zogen. Auch Carola Groppe erhellt Positionen der Reformpädagogik eher, indem sie sie mit dem George-Kreis kontrastiert.

Ein Trend des George-Forschung scheint leider zu sein, ausgerechnet ihren umfangreichsten Bänden kein Register beizufügen. Kritisiert werden muss auch die typografische Gestaltung des Bandes (fehlende Absatzeinrückungen, doppelte Leerzeichen, gerade Anführungszeichen, erratischer Fettdruck, Wechsel zwischen alter und neuer Rechtschreibung auch innerhalb einzelner Beiträge); am auffälligsten ist die mehrere Zentimeter breite Lücke, die auf über vierzig Seiten zwischen Text und Anmerkungen klafft.

Das Vorwort weist darauf hin, daß der vorliegende Band einige Bereiche nicht abdeckt: Platonforschung und Romanistik. Hinzuzufügen wären die germanistischen oder philosophischen Auseinandersetzungen mit Georges Werk, wie sie im Kreis entstanden. Besonders das Buch von Kurt Hildebrandt böte hier einen wichtigeren Untersuchungsgegenstand als die von Stefan Breuer ausgewählten Schriften zur Eugenik.

George ist aber, das unterstreicht diese Neuerscheinung, unter den vermeintlich am Rande stehenden Dichtern weiterhin und aus gutem Grund einer der am besten Erforschten.


Titelbild

Bernhard Böschenstein / Jürgen Egyptien / Bertram Schefold / Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.): Wissenschaftler im George-Kreis. XI, Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft.
De Gruyter, Berlin 2005.
376 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3110183048

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